Es ist immer etwas zu ändern Dez01


Es ist immer etwas zu ändern

Mirjana Neumeister verbindet Menschen mit Stoffen

Genäht hat sie schon in ihrer Heimatstadt Sanski Most in Bosnien. Mirjana Neumeister war gerade mal 17 Jahre alt, als ihr Vater plötzlich in der Zimmertür stand und sagte: „Packt eure Sachen, wir verlassen das Land.“

Der Bosnien-Krieg und die daraus folgende Flucht im Jahr 1992 nach Deutschland hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Schnell lernte sie die deutsche Sprache und freundete sich mit der fränkischen Lebensart an. Verständigung war für sie der Schlüssel zur neuen Kultur. Von der angeblichen Kälte der Deutschen hat sie allerdings gar nichts gespürt. Ganz im Gegenteil, sie empfand die Menschen als offen und warmherzig.

Die Änderungsschneiderei ist heute noch das Herz des Ladens im Rothenburger Stadtgraben. Foto: ul

Die Änderungsschneiderei ist heute noch das Herz des Ladens im Rothenburger Stadtgraben. Foto: ul

Die fränkischen Werte wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit gaben ihr sogar Struktur und Halt. „Wenn man aus dem Chaos kommt, weiß man die Ordnung zu schätzen“, so ihre Erfahrung.

Bleiben wollte sie eigentlich nicht. „Aber über meine Leidenschaft zu nähen bin ich irgendwie hängen geblieben,“ erzählt sie. Rothenburg wurde zu ihrer neuen Heimat. Bereits im Dezember 2002 eröffnete sie ein Brautmodengeschäft mit Änderungsschneiderei im Alten Stadtgraben.

Nicht nur die Arbeit mit Stoffen bereitete der Schneiderin Freude, die sich ihr Wissen autodidaktisch angeeignet hat, sondern auch der Kontakt zu den Menschen ist ihr sehr wichtig. Als der Arbeitskreis-Asyl im Jahr 2015 gegenüber vom Markusturm in Rothenburg seine Pforten öffnete, war sie sofort mit ihrem Engagement dabei. Nach ihrer Heirat und der Geburt von zwei Kindern nähte sie für ihre liebgewonnenen Kunden von zu Hause aus weiter, bis sie 2016 im Alten Stadtgraben mit einer Änderungsschneiderei neu durchstartete.

Bewusstsein schärfen
Durch ihre offene und herzliche Art wurde der Laden mit „aufgehübschter“ Secondhand-Kleidung, Stoffen und Nähzubehör zu einer Fundgrube für kreative Individualisten. „Es darf nicht sein, dass in Deutschland Stoffe und Kleidung weggeworfen werden, die in meiner Heimat Gold wert sind“, begründet sie ihre Motivation, die Ausbeutung von Menschen in Billiglohnländern durch den Verkauf von Massenware zu bremsen.

Es gibt so viele Ressourcen aus gebrauchten Stoffen, um einzigartige Unikate zu schaffen. Heute gibt sie Kurse für Schulklassen, um das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schärfen. Es entstehen beispielsweise Jogakissen oder ein Tippizelt aus alten Jeans. Ihre Vision, der Wegwerfgesellschaft entgegenzuwirken, hat sich mit dem großen Erfolg einer Modenschau im Jahr 2017 bestätigt. „Stylische Kleidung aus alten aber hochwertigen Stoffen, hergestellt von Schülerinnen und Schülern aus dem Reichsstadt-Gymnasium, begeisterte die Zuschauer in der Molkerei“, erinnert sie sich.

Dran bleiben war und ist die Devise. Mit dem Angebot eines Nähcafés in ihrem Laden bietet sie die Möglichkeit, Upcycling (aus gebrauchten Stoffen neuwertige Produkte herstellen) selbst auszuprobieren.

„Bei mir kann man das Handwerk Nähen und Gestalten von der Pike auf lernen“, bietet die junge Mutter mit Freude an. Was sich langsam rumgesprochen hat, trägt Früchte. Oft bringen Menschen alte und oft wertvolle Stoffe, die sie übrig haben. Aus diesem seltenen Material lassen sich hochwertige Kreationen herstellen, die einen individuellen Wert haben. Auf diese Weise wurden schon viele „textile Schätze“ wieder in den Kreislauf zurückgeführt.

Dem Ideenreichtum in der kleinen Änderungsschneiderei sind keine Grenzen gesetzt. Jeder bekommt das, was er braucht. Umgeben von einer warmherzigen Atmosphäre kommen nicht selten ältere Damen, die ein wenig Ansprache suchen. Sie setzen sich an eine der Nähmaschinen und legen selbst Hand an, um ihre Kleidung wieder in Schuss zu bringen. Eine Rothenburgerin kam einmal mit den Lieblingstopflappen ihrer Mutter, um ihn gleich 25 mal vervielfältigen zu lassen, damit jedes Familienmitglied ein Erinnerungsstück in den Händen hält.

„Wohlstand macht einsam“, ist sich die Schneiderin mit Herz sicher. Heute ist es nicht mehr nötig, den Nachbarn nach einem bestimmten Garn zu fragen. Jeder hat alles oder kann es billig übers Internet bestellen. Dem will sie entgegenwirken.

In Bosnien suchen die Menschen gemeinsame Lösungen für alles, was sie durch die Armut entbehren müssen. Mirjana Neumeister versucht die Bedürfnisse nach Gemeinsamkeit und Konsum auf nachhaltige Weise zu verbinden.

Bunte Ideen rund um Upcycling
Schon bei Kindern möchte sie das Bewusstsein für Nachhaltigkeit mit Geburtstagsfeiern in ihrer kleinen Nähwerkstatt wecken. Die jungen „Schneidergesellen“ dürfen nach Herzenslust eigene Ideen aus Stoff umsetzen oder beispielsweise den geliebten Teddy wieder „gesund“ machen.

„Um mich herum sammeln sich immer mehr Gleichgesinnte“, stellt die umweltbewusste Schneiderin fest. Gemeinsam mit der freiberuflichen Theaterpädagogin Christina Löblein bietet sie Künstlergeburtstage an – eine besonders kreative Idee mit selbstgeschneiderter Bühnenbekleidung und eigenem Theaterstück.

Der Youtuber Alex Cio sammelte für Mirjana Neumeister alte Rockfestival-Zelte, um daraus wasserabweisende Rucksäcke zu nähen und sie als Unikate zu verkaufen. Ihre beste Freundin, eine Marketingfachfrau hilft ihr, ihre Vision öffentlich zu machen und ihren Laden ansprechend zu gestalten. „Ich bin mit meinem Geschäft sogar Teil eines Buches geworden“, erzählt sie. Die Autorin Karin Steiff stand vor ihrer Tür und fragte, ob sie für ein bis zwei Stunden auf dem Sofa im Laden verweilen dürfe. Entstanden ist eine spannende Geschichte, die mit einer Beschreibung der besonders freundlichen Atmosphäre in den Räumlichkeiten eingeleitet wird.

„In den Sozialen Netzwerken werde ich oft als Künstlerin dargestellt, sodass die Menschen nicht mehr genau wissen, dass das Herzstück meines Ladens die Änderungsschneiderei ist“, betont Mirjana Neumeister. Bei all ihrer Kreativität will sie aber nicht ihre Kunst teuer verkaufen. Die Preise orientieren sich ausschließlich an den Richtlinien des Schneiderei-Gewerbes. ul