Ein Leben für Familie und Sport Jun01


Ein Leben für Familie und Sport

Marianne Christ aus Neusitz macht ganzen Familien Beine

Sport ist Mord – dieser Spruch steht dem bewegten Leben von Marianne Christ aus Neusitz völlig entgegen. Für die quirlige Sportlerin stand Familie und körperliche Aktivität immer im Mittelpunkt.

Sie gehört mit neun Geschwistern zu einer Großfamilie aus Neusitz. Die Verbundenheit zum Menschen prägte ihr späteres Leben auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Für den anderen da sein, und wenn es sein muss auch verteidigen, gehört zu ihren Grundprinzipien. Die heute sechsfache Mutter und elffache Großmutter – ein Urenkelchen ist auch schon da – packte die Sportbegeisterung. Eher aus der Not heraus, lag ihr Fokus auf Selbstverteidigung.

„Ich war seit über zehn Jahren glücklich in Hirschaid bei Bamberg verheiratet. Als ich mit meiner Nichte einen Schaufensterbummel in der Stadt machen wollte, griff ihr einer von vier jungen Männern im Vorbeigehen an die Brust“, erzählt Marianne Christ als wäre es gestern gewesen. Das hatte sie rasend gemacht.

Mit der Gründung einer Hausfrauensportgruppe holt sie Ehefrauen und Mütter hinter dem Herd hervor. Foto: Privat

Mit der Gründung einer Hausfrauensportgruppe holt sie Ehefrauen und Mütter hinter dem Herd hervor. Foto: Privat

Postwendend packte sie den „Wüstling“ beim Hemd und brachte ihn mit einem gewandten Judogriff zu Boden. Mit den Worten „und jetzt schleich di“ schlug die versierte Sportlerin den Unhold in die Flucht. „Noch wirkungsvoller ist ein Schlag mit der flachen Handwurzel auf die Stirn des Angreifers“, beschreibt sie eine noch effektivere Selbstverteidigungsmethode. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1967 stand die damals dreifache Mutter alleine da. Sie suchte nach einer kleineren und bezahlbaren Wohnung in Bamberg.

Mit Pioniergeist
In der erzkatholischen Gegend gestaltete sich die Wohnungssuche einer alleinstehenden Mutter ohne Job sehr schwierig – noch dazu als evangelisch Getaufte.

Die gebürtige Neusitzerin fand in ihrem Heimatort eine Bleibe und ist bis heute eine sportliche Bereicherung für hiesige Sportgruppen.

Trotz ihrer Kinder, die sie zu versorgen hatte, trainierte sie in Rothenburg als Judoka weiter bis zum „Orangen Gürtel“ – eine Vorstufe zum höchsten Judograd, den „Schwarzen Gürtel“.

Im Jahr 1968 holte sie mit ihrem Pioniergeist so manche Hausfrau hinter dem Herd hervor. Eigentlich hatte Marianne Christ im ASV-Rothenburg nur für sich selbst eine Gymnastikgruppe gesucht. „Wir haben leider keine Frauengruppe“, gab der damalige Vorsitzende des Vereins an. „Wie wäre es, wenn sie selbst eine gründen würden“, schlug er vor. Das ließ sich Marianne Christ nicht zweimal sagen. „Ich hatte gerade im September mein viertes Kind geboren, als ich gleich im Januar 1968 mit der neuen Sportgruppe loslegte“, erzählte sie lächelnd.

Ganz nach dem Motto „Runter mit den Pfunden und raus aus dem Haus“ versuchte die junge Frau die Mütter aus der Gegend für ihre Damengymnastik zu begeistern. „Ganz so akzeptiert war es in den 68er Jahren allerdings nicht, dass sich Hausfrauen ganz ohne Ehemann beim Sport vergnügten“, erinnert sich Marianne Christ. Deshalb wurde das Angebot erst einmal sehr verhalten angenommen. Die Frauen konnten nicht ahnen, was sie alles erwarten würde.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Kinder sitzen wie „ne Eins“. Foto: Privat

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Kinder sitzen wie „ne Eins“. Foto: Privat

Neben der wöchentlichen körperlichen Ertüchtigung, durfte der Spaß bei einem Tänzchen nicht fehlen. Mit dem Song „Nutbush“ von der Rocklegende Tina Turner erstellte Marianne Christ für ihre Turnerinnen eine eigene Choreografie. Auf Faschingsveranstaltungen des ASV-Rothenburg gaben die Damen ihr Können zum besten. „Vor circa einem Jahr traf ich eine junge Frau im Supermarkt. Sie begrüßte mich freundlich und erzählte mir begeistert von ihren Erinnerungen an die damalige Tanzchoreografie“, erzählt Christ erstaunt. Sohn Berthold übernahm als Ältester die Betreuung seiner Geschwister, während der Sportstunden seiner Mutter. „Er hat es so gut gemacht wie ich“, schwärmt Marianne Christ heute noch von dem Einsatz ihres Sohnes. Die Resonanz der Frauensportgruppe war enorm – aber es gab ja auch noch Väter und Kinder, die ebenfalls der Bewegung bedurften. Der nächste Akt waren die Gründungen von Mädchenturngruppen, auch in Geslau. „Mit bis zu 50 Mädels musste ich die Gruppe später sogar teilen – so groß war der Andrang“, erinnert sich die heute 84-Jährige. Für Zweitklässler folgte ein weiterer Kurs namens „Wirbala“, damit die Kinder die richtige Körperhaltung bereits im Grundschulalter lernten.

Natürlich hat Marianne Christ nicht „ins Blaue hinein“ unterrichtet. Immer wieder ist sie auf Wochenendfortbildungen für Sportgruppen nach Ansbach, Nürnberg und Dinkelsbühl gegangen und hat ihre Ausbildung zur Übungsleiterin für Vereine absolviert. Der sogenannte Trainerschein muss alle vier Jahre wiederholt werden. „Heute nach 52 Jahren als Sportgruppenleiterin mache ich keine Auffrischung des Trainerscheins mehr“, schmunzelt sie mitten im Interview.

Urlaub machen war damals so eine Sache. Deshalb organisierte Marianne Christ in den Sommermonaten immer wieder Zeltlager für ihre Mädchengruppe. Dabei konnte sie auch die eigenen Kinder mitnehmen. Auch hier wurde ihr Herz für die Kinder zu einer Wohltat für alle Beteiligten. Marianne Christ hatte für jedes Kind ein offenes Ohr.

Körperliche Fitness für alle
Aprops Kinder – im Jahr 1969 heiratete Marianne Christ ihren heutigen Ehemann Herrmann Christ. Es folgten auf dem Fuße gleich zwei weitere eigene Sprösslinge. Selbst wieder eine junge Mutter, rief sie gleich eine Eltern-Kind Gruppe ins Leben. Übungen mit dem „TheraBand“, dem Gymnastikball oder auf der Langbank verschafften kleinen Familien Spaß mit Bewegung und körperlicher Nähe.

Kaum hält Marianne Christ einen Gymnastikball in der Hand, wird sie sportlich aktiv. Foto: ul

Kaum hält Marianne Christ einen Gymnastikball in der Hand, wird sie sportlich aktiv. Foto: ul

Die Begeisterung über die Sportgruppen von Marianne Christ zog weitere Kreise. Im diakonischen „Heim Gottesweg“ Heim für geistig behinderte Erwachsene zauberte Marianne Christ den Bewohnern mit ihren Übungen ein Lachen ins Gesicht. „Zwei aus dieser Gruppe besuchten später sogar meinen normalen Gymnastikunterricht“, so erzählt sie erfreut.

Auch das Bayerische Rote Kreuz heuerte die versierte Sportleiterin für Männerfitness-Kurse an.

Zum 20-jährigen Jubiläum in Passau brachte das gut trainierte Männerensemble eine Aufführung auf die Bühne. „Sie sind eine einzigartige Gruppe“, schmeichelte Carmen Zieglmeier-Streb, als hauptamtliche Teamleiterin beim Landesverband des Bayerischen Roten Kreuzes den Herren im Sportoutfit. Im gesamten Freistaat gebe es keine weitere Gruppe des Wohlfahrtsverbandes, in der sich ausschließlich Männer fit halten, berichtete der Fränkische Anzeiger im Jahr 2016.

Es folgten so manche Auszeichnungen für das Engagement der Sportlerin. Einmal pro Woche trifft sich die Männertruppe in der Turnhalle an der Realschule, um eine Stunde lang mit verschiedenen Übungen ihre Beweglichkeit, Koordinationsfähigkeit, Kraft und Motorik zu trainieren.

Marianne Christ kümmert sich heute noch um den letzten noch übrigen harten Kern, der teils 90-jährigen Männergruppe. „Oft sind die Frauen bereits verstorben“, erzählt sie. Immer wieder ruft sie ihre Sportschützlinge an, um ein wenig menschlichen Kontakt in diesen Coronatagen aufrecht zu erhalten. Vor der Pandemie war die 84-Jährige noch mit sieben Stunden wöchentlich in verschiedenen Sportstunden im heutigen TSV-Rothenburg aktiv.

Im Moment hat die junggebliebene Oma und Uroma viel Zeit für die Pflege ihrer Schwester, die bald 90 Jahre alt wird, und ihre Enkel, von denen drei mit ihren Eltern im Haus leben. ul