Wie von Zauberhand Mai05


Wie von Zauberhand

Künstlerin Hyrtis beherrscht ein außergewöhnliches Instrument: das Theremin
Gladys Hulot alias Hyrtis spielt das Theremin seit knapp vier Jahren.

Das Theremin ist ein Holzkästchen mit zwei Antennen und einem erstaunlich breiten Klang-Repertoire. Gladys Hulot alias Hyrtis spielt darauf seit knapp vier Jahren.

Das Theremin ist ein Instrument, das sich berührungslos spielen lässt. Was klingt wie eine Erfindung aus der Corona-Ära, gibt es schon seit 100 Jahren. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein Holzkästchen mit zwei Antennen. Und damit lässt sich Musik machen? Ja und wie! Hochkonzentriert hebt die Künstlerin Hyrtis ihre Hände, spreizt die Finger, als würde sie über unsichtbare Saiten streichen. Ohne das Kästchen anzufassen, entlockt sie ihm eine sanfte Melodie: Das Air aus der dritten Orchestersuite von Bach. Ein melancholisches Stück, das perfekt zum Klang des Theremins passt.

Mitten ins Herz
Hyrtis‘ Interpretation geht dem Zuhörer durch und durch, trifft mitten ins Herz. Wie funktioniert dieses Instrument? Ist das Magie oder ein simpler Trick? Weder noch. „Viel Arbeit“, sagt die gebürtige Französin, die in Niederstetten und Reims lebt. Sie erklärt: „Die Antennen sind mit Oszillatoren verbunden. Ist das Theremin angeschaltet, senden die Oszillatoren Frequenzen aus. Diese Frequenzen reagieren auf die Körpermasse des Spielers. Der Verstärker übersetzt die Frequenzen in ein musikalisches Signal.“ Mit der rechten Hand verändert Hyrtis die Tonhöhe, mit der linken die Lautstärke. Hyrtis ist der Künstlername von Gladys Hulot. Vor knapp vier Jahren begann sie, sich intensiv mit dem Instrument zu beschäftigen. Zuvor feierte Hulot bereits große Erfolge an der singenden Säge, gewann 2011 die Weltmeisterschaft in Polen.

Zum Theremin kam sie, weil ein Musikerkollege behauptete, dieses sei schwieriger zu spielen, als die Säge. Die Künstlerin stellte sich der Herausforderung und übte mit Hilfe von Online-Videos unermüdlich. Einen Monat später brachte sie eine erste Melodie zustande: „Mon cœur s‘ouvre à ta voix“. Auf Facebook und Instagram zeigte sie ihr frisch erworbenes Können und stieß auf positive Resonanz. Die vielen Likes motivierten sie, weiterzumachen.

Über 5 000 Stunden Arbeit
Nach neun Monaten autodidaktischen Lernens nahm Hyrtis an der Theremin-Akademie in Colmar Unterricht. Dort stellte sie fest, dass sie sich eine falsche Körperhaltung angewöhnt hatte. Viel Mühe war nötig, sich umzustellen. Summa summarum stand sie inzwischen ungefähr 5 000 Stunden an ihrem Etherwave von Moog. Täglich kommen zwei bis fünf weitere Stunden dazu. Sie fühlt eine Verbindung zu dem Instrument – körperlich, mental und spirituell.

Entwickelt hat es 1920 der russische Physiker Lew Termen, der sich im Westen Leon Theremin nannte. Zeitungsartikeln zufolge befinden sich im Inneren des Kästchens Radioröhren, Spulen und Kondensatoren. Ein defektes Radiogerät soll Lew Termen auf die Idee gebracht haben, mit dessen Brummen Musik zu machen. Ob’s stimmt? Schwer nachprüfbar. Jedenfalls hob Lew Termen mit dem Theremin eines der ersten elektronischen Musikinstrumente aus der Taufe und sorgte für Aufsehen. Lenin war wohl entzückt und die Pariser Oper bis auf den letzten Platz gefüllt.

Als Instrument für die breite Masse setzte es sich nicht durch. Aber im Internet tummelt sich durchaus eine stolze Fangemeinde. Professionelle Theremin-Spieler gibt es weltweit einige Dutzende, schätzt Lydia Kavina, eine Verwandte des Erfinders.

Höchste Konzentration
Hyrtis ist begeistert vom Facettenreichtum des Theremins: „Ich kann es wie eine Stimme bearbeiten und experimentieren.“ Staccato, Glissando, Vibrato – alles ist möglich. Es ist kein leichtes Unterfangen, die Töne präzise zu treffen und sich auf die eigene Bewegung, das Gehör, den Klang zu konzentrieren.

Die Klangfarbe stellt Hyrtis über Knöpfe an der Seite ein: einmal geigenähnlich, dann wie eine Opernsängerin. So müssen die Sirenen geklungen haben, die Odysseus den Kopf verdrehten. Manche nennen die Musik „geisterhaft“ oder „außerirdisch“. Tatsächlich kam sie in Grusel- und Science-Fiction-Filmen zum Einsatz. Zudem im Beach-Boys-Song „Good Vibrations“.

Hyrtis hat sich diesen Januar einen Spitzenplatz erkämpft: Mit ihrer Version des Irving-Berlin-Songs „Cheek to Cheek“ siegte sie im internationalen Wettbewerb „Theremin Star“, zu dem ein Urenkel des Erfinders aufgerufen hatte. Der Preis: Ein Auftritt auf dem Festival Thereminology in St. Petersburg. „Das ist für mich eine unglaubliche Gelegenheit“, sagt sie. Das Festival sollte im September stattfinden und wurde wegen der Corona-Pandemie verschoben.

Das Video ist auf ihrem Youtube-Kanal und der Webseite www.hyrtis.com zu sehen. Dort findet sich auch ein Clip zum Song „Life on Mars“ von David Bowie. In den Dreieinhalbminüter hat die Kunsthochschul-Absolventin gleich mehrere ihrer Talente gepackt: Illustration, Animation sowie das Spiel der Lame Sonore, einer Weiterentwicklung der singenden Säge. Dass der Clip satte 180 000 Aufrufe aufweist, hat einen besonderen Grund: Noch zu Lebzeiten teilte David Bowie ihn auf seiner Webseite sowie Facebook und Twitter. „Das hat mir viele Türen geöffnet“, verrät Hyrtis. Ihre Kunst hielt Einzug in Los Angeles, nachdem zwei Designer auf sie aufmerksam geworden waren. Es gab Möbel, die bedruckt waren mit Bildern aus dem Clip, der außerdem auf einer riesigen Leinwand lief.

Bis zur Corona-Krise gab Hyrtis Konzerte auf französischen Bühnen, schilderte dem Publikum die Funktionsweise des Theremins und dessen Geschichte. Die Deutschland-Premiere steht noch aus. In der Region kennen sie viele von Auftritten an der singenden Säge mit ihrem Freund Tom Fink als Duo Lame Sonore.

Welches Instrument ist ihr lieber? Beide gleichermaßen. „Sie sind für mich wie zwei Kinder. Eines ist einfacher, das andere braucht mehr Aufmerksamkeit.“ Inzwischen stimmt sie ihrem Musikerkollegen zu, der sie herausgefordert hatte und so den Grundstein für ihre Leidenschaft legte: Das Theremin ist tatsächlich viel schwieriger zu spielen als die Säge. 
sab