Visionen in Kunststoff Sep01


Visionen in Kunststoff

Die Firma Wirthwein aus Creglingen ist international aufgestellt

In Creglingen, stadtauswärts Richtung Röttingen, fährt man vorbei an „Wirthwein“: Jede Menge Produktionshallen, ein gläserner Turm am Firmeneingang, unzählige Autos von Mitarbeitern parken rundherum. Augenscheinlich muss hier was Größeres sein. Aber was?
In Creglingen kennt natürlich jeder „Wirthwein“, in Rothenburg wird es dagegen schon schwieriger. Dabei ist die Firma Wirthwein eines der wenigen Familienunternehmen der Region, die vom Taubertal aus die Welt erobert haben – und dabei niemals der Heimat den Rücken gekehrt haben.
Ganz im Gegenteil: „Es gab nie eine Überlegung von hier wegzugehen“, stellt Vorstand Marcus Wirthwein fest. Gemeinsam mit seinem Bruder Frank Wirthwein (Vorstand Vertrieb) und Reiner Zepke (Vorstand Finanzen) steht er an der Spitze des Unternehmens.
Die Firma Wirthwein ist an 21 Standorten in sechs Ländern vertreten. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen 3300 Mitarbeiter, davon 350 am Standort Creglingen. Der geplante Umsatz der Wirthwein-Gruppe liegt für 2015 bei 450 Millionen Euro.
Begonnen hat die Erfolgsgeschichte jedoch ganz unspektakulär. Die Liebe hat Walter Wirthwein, den Großvater von Marcus und Frank Wirthwein, nach Creglingen geführt. Es war die Zeit nach dem Krieg, Deutschland musste aufgebaut werden, und Walter Wirthwein gründete 1949 in Creglingen einen Betrieb zur „Herstellung von Kleineisenteilen und Holzdrehteilen“.

Die Famillie hat die Fäden in der Hand: Frank, Udo, Ingrid und Marcus Wirthwein.

Die Famillie hat die Fäden in der Hand: Frank, Udo, Ingrid und Marcus Wirthwein.


Vielversprechender Start
In seiner Garage und ab 1954 in der ersten Werkshalle fertigte er achteckige Holzpflöcke, die als Dübel zur Holzschwellensanierung der Bahnstrecken dienten. Ein Renner in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders und Beginn einer Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn, die bis heute anhält.
Als die Bahn Mitte der 60er Jahre auf Kunststoff umstellte, ging Walter Wirthwein den Weg mit. Eine weise Entscheidung, die eine der Grundlagen für das zukünftige Wachstum war. Die andere war, damals wie heute, die Fortführung des Betriebes als Familienunternehmen.
Nachdem Walter Wirthwein überraschend starb, übernahm 1978 sein Sohn Udo Wirthwein (heute Aufsichtsratsvorsitzender der Wirthwein AG) die Unternehmensführung.
Der Diplomingenieur wagte dann auch den ersten Schritt zur Unternehmenserweiterung. Der Mauerfall 1990 war wegweisend. In Brandenburg-Kirchmöser gab es ein Weichenwerk der DDR-Reichsbahn, das bereits von Wirthwein beliefert wurde.
Die erste Werkstatt im Keller des Wohnhauses von  Walter Wirthwein.

Die erste Werkstatt im Keller des Wohnhauses von Walter Wirthwein.

Auf dem Gelände sollte eine Art „Bahnkonglomerat“ mit Zulieferern und produzierenden Unternehmen entstehen, und Wirthwein gründete hier 1991 das erste Tochterunternehmen, das auch heute noch existiert und nach dem Aufbau Ost nun überwiegend Bahngroßaufträge Richtung Ukraine und Kasachstan ausführt.
Walter Wirthwein, ein Unternehmer alter Schule, schmiedete auch den Kontakt zu BSH Bosch und Siemens Hausgeräte. Seit Mitte der 90er Jahre ist die Firma Wirthwein deren Hauptlieferant.
Um konkurrenzfähig zu bleiben, ist es für das Unternehmen wichtig, die Produktion nahe am Abnehmer anzusiedeln. Daher baute Wirthwein 1995 das Werk in Nauen, in Nachbarschaft von BSH.
Ähnliche Entscheidungsstrukturen liegen hinter allen Tochter­unternehmen von Wirthwein: 1998 Unternehmensgründung in Polen, 2003 in New Bern in North Carolina in den USA, 2007 ging Wirthwein nach Shanghai in China, 2009 entstand ein weiteres Werk in Fried­berg in Bayern und im selben Jahr im spanischen Saragossa. 2012 wurden drei weitere Werke in Deutschland eröffnet und im gleichen Jahr ein Unternehmen in Fountain Inn in South Carolina in USA gegründet.

Im Creglinger Werk werden Kunststoff-      elemente für Auto-Schiebedächer produziert.

Im Creglinger Werk werden Kunststoff- elemente für Auto-Schiebedächer produziert.


Ein „Global Player“
Aus dem einstigen Holzdübel-Produzenten ist ein Kunststoffimperium geworden, das heute nicht nur auf zwei, sondern auf fünf Beinen steht. Zur Bahn kamen die Sparte Hausgeräte, die Energie im Bereich Motoren- und Klimatechnik, die Medizintechnik und seit etwa zehn Jahren die Automobilindustrie.
„Wachstum ja, aber nur so, wie es Sinn macht“, stellt Marcus Wirthwein fest. Die Stärken des Unternehmens liegen ganz klar im hoch qualifizierten ,Know-How‘, das auch branchenübergreifend zum Einsatz kommt, und in der Struktur des Familienunternehmens. „Unsere Kunden legen sehr viel Wert auf Verlässlichkeit und konstante Ansprechpartner“, so Marcus Wirthwein.
Auch wenn die einzelnen Produkte aus dem Hause Wirthwein im Gesamtgefüge verbaut sind, so kennt der Verbraucher sie doch. Hier nur eine kleine Auswahl: Für Bosch und Siemens stellt Wirthwein Laugenbehälter her. Das ist die Umhüllung der Wäschetrommel – für den Endverbraucher zwar nicht sichtbar, aber unverzichtbar. Auch der Besteckkorb der Spülmaschine kommt von Wirthwein.
Im Bereich Energie produziert Wirthwein unter anderem Lüfterrräder für Ventilatoren. Im Bereich Medizintechnik entstehen seit 2005 in Reinraumtechnik Küvetten, Pipetten und unter anderem auch Verpackungsschalen für Kontaktlinsen.
Die Bahn ist seit über 60 Jahren Kunde von Wirthwein. Marcus Wirthwein erklärt am Modell das Schienensystem für Hochgeschwindigkeitsstrecken. Den Großteil der Kunststoffelemente zur Befestigung stellt Wirthwein her.
Im Jahr 2007 hat Wirthwein sich auch für den chinesischen Markt gerüstet. Mit der Produktion in zwei Firmen in Shanghai ist das Unternehmen mit einem Großteil der Schienenbefestigung am Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Shanghai nach Peking beteiligt.
Über 9000 Kilometer Schienenstrecken sind mittlerweile in China mit Kunststoffteilen der Creglinger Firma ausgestattet. „Das zukünftige Potenzial in diesem riesigen Land ist immens“, weiß Marcus Wirthwein.
Mit Marcus Wirthwein, der nach der Ausbildung zum Werkzeugmacher Kunststofftechnik studiert hat und danach drei Jahre bei Mercedes in Stuttgart beschäftigt war, ist auch die Produktsparte Automotive als weiteres Standbein zum Unternehmen gekommen. Unter anderem stellt Wirthwein Fensterrahmenverkleidungen für Audi her und Schiebedachkomponenten (Netzwindabweiser) für Daimler und BMW. Auch VW und Porsche gehören zum Kundenkreis.
Die Automobilbranche ist hart umkämpft, der Kostendruck immens, aber „die Stückzahl ist attraktiv für die Kunststofftechnik und gibt uns Planungssicherheit“, so der Vorstand.
Stabilität auf mehreren Standbeinen
Die unternehmerische Entscheidung, sich in verschiedenen Bereichen zu positionieren, verleiht dem Unternehmen Stabilität bei konjunkturellen Schwankungen. Die Sparte Bahn lebt von Projektaufträgen, die in kurzen Zeiträumen abgewickelt werden.
Im Bereich Automotive sind Produkte auf eine Laufzeit von etwa sieben Jahren ausgelegt, die „weiße Ware“ (Waschmaschinen-, Spülmaschienenteile usw.) ist langfristig geplant und in der Medizintechnik belaufen sich die Laufzeiten der Produkte auf bis zu 30 Jahre.
Die Firma mit Hauptsitz in Creglingen bietet ihren Partnern dabei nicht nur das Endprodukt, sondern den gesamten Prozess von der ersten Skizze bis zur Anlieferung.
Die Kunststoffprodukte und die nötigen Bauwerkzeuge werden gezielt entwickelt. Nach Konstruktion und Verifizierung wird ein Prototyp bzw. Werkzeug hergestellt. Der zentrale Formenbau der Wirthwein-Gruppe sitzt seit 1999 in Osterode, etwa in der Mitte Deutschlands. Spritzwerkzeuge mit bis zu 20 Tonnen Gewicht werden hier hergestellt.
Berufliche Zukunft
Mit etwa 400 Spritzgießmaschinen wird in den jeweiligen Werken dann aus feinem Granulat das jeweils individuelle Produkt hergestellt. Ungefähr 220 Mitarbeiter arbeiten allein in der Produktion in Creglingen. Im Dauertakt öffnen und schließen sich die Spritzgießmaschinen. Der Mensch ist dabei unersätzlich, und seine Handgriffe und die technische Präzision sind eng aufeinander abgestimmt.
Die Firma Wirthwein ist daher für die Region ein bedeutender Arbeitgeber und auch Ausbilder in 13 Ausbildungsberufen und mit der Möglichkeit zum Dualen Studium in fünf Studiengängen.
Will man den Kreis des Unternehmens Wirthwein schließen, gehören auch die Firma Winkler Design als Spezialist für Theken- und Sonderbau und die Firma Bembé Parkett mit Erfahrung in 230 Jahren Parkett-Kultur dazu. Seit Kurzem ist Wirthwein auch an einem kunststoffproduzierenden Unternehmen in der Türkei mit 70 Prozent beteiligt und der Neubau einer weiteren Produktionshalle in Creglingen ist geplant.
Und die Fäden für all dies laufen in Creglingen zusammen, direkt an der Hauptstraße, stadtauswärts in Richtung Röttingen. Wer hätte das gedacht? am