Leben im Torturm – Axel Dittrich bewohnt eine ungewöhnliche Immobilie Jul01


Leben im Torturm – Axel Dittrich bewohnt eine ungewöhnliche Immobilie

Eine Langenburger Prinzessin hatte sich im Wald verlaufen. Ihr Vater war sehr besorgt. Er ließ die Glocken so lange läuten, bis seine vermisste Tochter den Weg zurück nach Hause fand. Zur Erinnerung erklingt zwischen Martini und Ostern täglich um 20 Uhr die Glocke am Torturm. Als Grundschüler schrieb Axel Dittrich über diese Legende einen Aufsatz. Damals hätte er sich nicht träumen lassen, dass er einmal in besagtem Langenburger Torturm leben würde. Zwei Stockwerke sind zu Wohnungen ausgebaut. Streng genommen handelt es sich bei dem von ihm bewohnten Fachwerkgebäude um das Torhaus. Landläufig jedoch bezeichnen die Einheimischen den gesamten Komplex als Torturm, weiß Axel Dittrich der in dem 1 800-Einwohner-Städtchen aufgewachsen ist.
Nachdem die Vormieterin ins Seniorenheim gezogen war, hatten ihn Bekannte auf die ungewöhnliche Immobilie aufmerksam gemacht. „Ich fand sie cool“, erzählt der Buchhändler mit einem Faible für ältere Gebäude. Besonders fasziniert den 34-Jährigen die Geschichte, „die hier so ein bisschen mit herumschiebt.“

Altes Gefängnis nebenan
Einst beherbergten die Wohnungen fürstliches Personal. Im angeschlossenen Turm befand sich über Jahrhunderte hinweg das Langenburger Gefängnis. In einer der früheren Zellen lagert Axel Dittrich Holz. Hier war unter anderem ein Page eingesperrt, der im Schloss Silbergegenstände gestohlen hatte. Beim Fluchtversuch durch einen Sprung aus dem Fenster, brach er sich fast sämtliche Knochen. Das Gerichtsurteil lautete später: Kopf ab! Ob der Page wohl im Torturm herumspukt? Axel Dittrich verneint schmunzelnd. Zumindest habe er noch nichts bemerkt.

Wer mit dem Auto vom oberen ins innere Städtchen gelangen will, muss das Stadttor passieren. Die drei Beulen über dem Torbogen sind der Überlieferung nach Kanonenkugeln aus dem Dreißigjährigen Krieg. Fotos: sab

Die Fenster seiner Wohnung gewähren ihm einen Blick in alle Richtungen. Durchs Schlafzimmerfenster sieht er das Langenburger Schloss und das innere Städtchen.
Nebenberuflich arbeitet Axel Dittrich als Gästebetreuer für die Fürstliche Verwaltung. Der Buchhändler verfügt über ein umfassendes geschichtliches und royales Wissen. Vielleicht hat sein Interesse an der Aristokratie damit zu tun, dass er als Kind mit seiner Oma gerne bunte Magazine betrachtete, in denen prunkvolle Adelshochzeiten abgebildet waren? Bis heute ist er ein erklärter Fan der englischen Queen, deren Ehemann Prinz Philipp eng verwandt ist mit der Langenburger Fürstenfamilie.
Das Tor über dem Axel Dittrich wohnt, wurde im Jahr 1554 erstmals erwähnt. Die drei Beulen auf der Vorderseite sind der Überlieferung nach Kanonenkugeln aus dem Dreißigjährigen Krieg. Das Torhaus, in dem sich die Wohnungen befinden, kam 1737 hinzu. Der Lärm der Autos, die das rundbogige Tor passieren, stört Axel Dittrich nicht. „Tagsüber arbeite ich eh‘ und abends ist nicht mehr so viel los“, sagt er.
Vor drei Jahren krachte ein Lkw mit versehentlich ausgefahrenem Greifarm in das Tor, durchbrach Holzbalken und Schlusssteine. Es bestand Einsturzgefahr. Glücklicherweise waren in Axel Dittrichs Mietwohnung weder Risse noch andere Auswirkungen sichtbar. Fachleute stützten das Tor sofort ab. Er kam um eine Evakuierung herum und schlief nachts unbesorgt. In seinem gemütlich eingerichteten Domizil fühlt sich der Langenburger rundum wohl und vergleicht es mit einer Altbauwohnung: „Die Böden knarzen und quietschen.“ Die Temperatur hinter den etwa 25 Zentimeter dicken Mauern sei im Sommer relativ angenehm. Oft fotografieren Touristen das Torgebäude. Dabei kann es passieren, dass sie Axel Dittrich beim Fensterputzen mitablichten.
Seit im letzten Jahr die Nachbarn ausgezogen sind, hat er auch die untere Wohnung angemietet und seine Wohnfläche von 63 auf 123 Quadratmeter vergrößert. Anfang des Jahres hielt er im hinzugewonnen Teil Vorträge über eine Zugreise des Erbprinzen Ernst zu Hohenlohe-Langenburg und seiner Frau Alexandra. Das Paar besuchte im Jahr 1900 den letzten russischen Zaren Nikolaus II. in St. Petersburg, ein Cousin der Prinzessin. Axel Dittrich verglich die Tagebuchauszüge des Langenburger Thronfolgers mit denen des später bei der russischen Revolution ermordeten Herrschers. Die Öffentlichkeit zeigte so großes Interesse an seinen Erkenntnissen, dass er die stets ausgebuchte Veranstaltung viermal wiederholte, ohne dass der Ansturm abebbte. Wären nicht Freunde wegen eines Wasserschadens vorübergehend in seiner Wohnung gestrandet, hätte er weitere Termine angeboten.

Queen Victorias Briefe
Nach dieser überwältigenden Resonanz bereitet er sich auf einen neuen Vortrag im Torturm vor. Anlass ist der 200. Geburtstag von Königin Victoria im kommenden Jahr. Die einstige Queen war die Halbschwester der Langenburger Fürstin Feodora. Sie pflegten einen regen Briefwechsel. Interessierte können sich ab Herbst über die Volkshochschule anmelden.
Da die Vorträge in der dunklen Jahreszeit stattfinden, läutet um 20 Uhr die Glocke am Torturm. Zur Erinnerung an eine Prinzessin, die sich verlaufen hatte.
sab