Ein sicheres Gebiet Okt01


Ein sicheres Gebiet

Rothenburg liegt heute direkt an der Grenze von Bayern und Baden-Württemberg. Die Gebiets­hoheit ist klar begrenzt, verortet im Landkreis Ansbach. Zu früheren Zeiten sah das noch ganz anders aus. Rothenburg war eine Reichsstadt, von Bundesländern war noch lange nicht die Rede und eine eigene Grenze umgab die damalige Metropole: die Landwehr mit der Landhege.
Der Bau von wehrhaften Landhegen als Verteidigungsanlagen war im 14. Jahrhundert keine Ausnahmeerscheinung. Die „bayerische Landwehr“ am Lech (seit 1372), die „Landwehr“ zwischen Bamberg und Coburg (ab 1424) und die „Nürnberger Landwehr“ (ab 1450) sind nur einige der Beispiele. Rothenburg lag also mit seiner Idee auf der Höhe der Zeit.
Ab dem 14. Jahrhundert bis zu seinem Ende als freie Reichsstadt im Jahr 1802/03 hatte die Stadt ein beträchtliches ländliches Territorium mit fruchtbaren Böden erworben, das weit über seine mittelalterlichen Stadtmauern hinausreichte und war zu einer bedeutenden Regionalmacht in Süddeutschland avanciert. „Keine andere Stadt im süddeutschen Raum konnte zu jener Zeit einen gleich großen Besitzstand aufweisen“, so überliefern es uns die Quellen. Wer als geschäftstüchtiger Kaufmann, Reisender oder frommer Pilger in das von wohlhabenden Ratsherren­geschlechtern regierte Rothenburg kommen wollte, musste dieses ausgedehnte Landgebiet passieren.

In der Nähe von Reichardsroth wurden Landhege und einstiger Schlupf wieder hergestellt.  Foto: Zink

In der Nähe von Reichardsroth wurden Landhege und einstiger Schlupf wieder hergestellt. Foto: Zink


Hauptverantwortlich für jenen gro­ßen Gebietszuwachs war der tatkräftige Bürgermeister Heinrich Toppler, der 1373 sein Amt antrat. Peu à peu hatte er das dörflich-kleinstädtische Umland der stolzen Reichsstadt erweitert, bis es zwanzig Kilometer im Geviert maß, also etwa vierhundert Quadratkilometer.
1376 kaufte Toppler das Dorf Lindensachsen, anschließend den Teufelshof. 1384 erwarb er erstmals ein einträgliches Gut vom fränkischen Adelsgeschlecht der Hohenlohe. Es folgten die Pfandschaft über die rustikale Veste Hornberg sowie die Landstadt Uffenheim im Gollachgau und der Markt Seinsheim an den Ausläufern des Steigerwaldes.
Weitere bäuerliche Weiler kamen in Folge hinzu. Ebenso erstanden die gut situierten Rothenburger Patrizier mehrere landwirtschaftliche Anwesen vom Burggrafen von Nürnberg, der entlang der Tauber umfangreichen Landbesitz besaß.
Agrarisch geprägt
Politisch und wirtschaftlich betrachtet, war das ländliche Territorium ein Teil der Freien Reichsstadt. Es gehört zur Stadt- und Wirtschaftsgeschichte, da die Rothenburger Wirtschaft von seinem agrarischen Umfeld profitierte. Zudem war die territoriale Expansion der seinerzeit 5500 Seelen zählenden Tauberstadt unter günstigen Voraussetzungen erfolgt, weil die fränkische Region hier stark zersplittert war. Dazu trug bei, dass sich der grundherrschaftliche Adel durch endlose Fehden selbst geschwächt hatte.
„In den Fasten“ des Jahres 1430 hatten die Honoratioren damit begonnen, ihr ertragreiches Territorium mit einer massiven Landhege zu umgeben.
Nachdem die Stadt ansehnliche Gebiete in ihrem Umland erworben hatte, wurde auch von dieser Seite und zum Schutz der Untertanen ein befestigtes Verteidigungssystem aufgebaut. Es bestand zum einen aus der „Landwehr“ – also der Verpflichtung der Bürger zur Selbstverteidigung – und zum anderen aus zahlreichen Burgen, die die Stadtoberen gekauft hatten. Hinzu kamen doppelte Kirchhofmauern und befestigte Gotteshäuser, sogenannte Wehrkirchen wie zum Beispiel die St.-Wolfgangskirche (1475–92) in der Klingentorbastei.
Der Landturm bei Lichtel ist heute das Vereinsheim des Schwäbischen Albvereins.Foto: am

Der Landturm bei Lichtel ist heute das Vereinsheim des Schwäbischen Albvereins.Foto: am


Darüber hinaus begannen die Patrizierfamilien mit der Errichtung ihrer Landhege, deren Zweck rein fortifikatorisch war. Leider ist uns aus der Zeit ihrer Konstruktion kein Name eines Baumeisters überliefert, sodass sie als ein anonymes Gemeinschaftswerk entstand. Auf einer Länge von 62 km schirmte die Hege in weitem Bogen die Reichsstadt mit dem sie westlich umgebenden Flachland zu Füßen der Frankenhöhe ab.
Ihr Ausgangspunkt lag nördlich bei Steinach an der Ens, südlich bei Wettringen endete sie. Nach Osten hin reichte die bewaldete, teils steil ansteigende Frankenhöhe als natürlicher Schutz aus.
Gegen 1480 war die Landhege fertiggestellt, und 1507/08 von Kaiser Maximilian I. genehmigt worden. Jetzt konnte die oligarchisch regierte Kommune durch ihre eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse wirtschaftlich autark existieren.
Im Vergleich mit anderen Reichsstädten stand Rothenburg somit gut da, weil es nie von Gewerbe und Handel allein, sondern immer auch von seiner Landwirtschaft gelebt hatte. Sein fruchtbares Landgebiet produzierte Getreide und Vieh, was gewinnbringend exportiert wurden. Folglich ließ sich in Friedenszeiten der Haushalt Rothenburgs problemlos ausgleichen.
Die Hege im Detail
Die Landhege war ein circa 18 bis 22 Meter breites Wall-Graben-System. Ein mittlerer – 9 Meter breiter und 4 Meter hoher – Erdwall wurde beiderseits von Gräben begleitet, denen nochmals Wälle vorgelagert waren, wobei der äußere, teilweise mit Wasser gefüllte Graben mit bis zu 2,50 Meter der tiefste war. Außerdem hatte man Bäche mit in das tief gestaffelte Verteidigungswerk einbezogen. Alle drei Wälle und der innere Graben waren mit Stangenholz bestückt sowie mit Buschwerk bepflanzt.
Dennoch war die komplex angelegte Hege nicht unüberwindlich. Einzelnen Personen dürfte es möglich gewesen sein, das schwer durchdringliche Hindernis zu Fuß zu überwinden; Reiter, Wagen und Heerzüge konnten es hingegen nicht passieren.
Bauern, die jenseits der Landwehr eigene Felder bewirtschafteten, sollten die bis zu fünf Fuß breiten Durchgänge, die Lücken oder Schlupfe, benutzen, die in die Hege integriert waren. Indessen war das zweckdienliche Befestigungssystem von Einheimischen oftmals mutwillig durchlöchert worden, wenn jene sich am Tage für Erntearbeiten auf ihren Feldern außerhalb aufgehalten hatten und abends wieder in ihr Dorf innerhalb der Verteidigungsanlage zurückkehren wollten. Gleichermaßen schauten fremde Herren von auswärts – die inmitten des Hegegebiets eigene Rechte beanspruchten – mit neidischen Blicken auf die gut befestigte Rothenburger Landwehr.
Unterwegs mit den Pferden
Zwei Hegewege, die an der Außen- und der Innenseite, zuweilen auch mittig auf der Wallkrone entlangliefen, dienten Hegereitern (auch Hegebereitern oder Grabenreitern) für ihren täglichen Kontrollritt. Sie wurden für ein Jahr ernannt. Jeder Grabenreiter hatte einen speziellen Abschnitt der Hege tagtäglich abzureiten. Darüber hinaus führte er kleinere Reparaturen seines beschädigten Distrikts selbst aus.
Die 62 km lange Hegestrecke war auf sechs Reiter aufgeteilt, die Anspruch auf eine eigene Dienstwohnung besaßen. Sie mussten jedoch ihr Dienstpferd selbst stellen sowie für ihre Dienstbekleidung, ihre Waffen und Munition persönlich aufkommen. Als Einkünfte bezog der Hegereiter neben seinem in barer Münze ausgezahlten Lohn auch Naturalien und Brennholz.
Mitte des 17. Jahrhunderts gab es außerdem Landschultheiße, die die Landwehr beaufsichtigten. Sie waren wie eine Landpolizei bewaffnet und zu Pferd unterwegs. Schultheiße hatten ihr Augenmerk auf die Instandhaltung der Straßen zu richten und darauf zu achten, dass das Buschwerk auf den Wällen gut gepflegt wurde. Obendrein waren sie für die Einquartierung und Fouragierung von Soldaten in ihrem Rayon verantwortlich.
Landvögte & Landtürme
Die wichtigen Straßen waren mit Schranken und „Riegeln“, schwere Holzgatter mit eisenbeschlagenen Balken, verschlossen, die von Riegelschließern Tag und Nacht bewacht wurden. Einer Anweisung von 1683 zufolge, durfte sich im Sommer niemand mehr nach 22 Uhr und im Winter nach 20 Uhr auf den Straßen blicken lassen, wenn er nicht mit einer empfindlichen Geldbuße rechnen wollte.
Die häufig frequentierten Hauptstraßen durch die Hege waren mit mächtigen Landtürmen gesichert, die mit einem aufmerksamen Türmer besetzt waren. Es gab neun dieser Landtürme: An der Nordseite der Hege zwischen Frankenhöhe und Tauber standen Türme in Steinach an der Ens, Habelsee, Ohrenbach, Reichardsroth und Großharbach; an der Westseite befanden sich Warttürme in Lichtel, Heimberg, Funkstatt und bei Musdorf. Heute existieren noch sechs Rothenburger Türme, die mittlerweile freilich ein wenig allein in der fränkischen Landschaft stehen.
Im Zuge von Renovierungsarbeiten 1661/62 waren Inschriften an den Landtürmen durch dafür verantwortliche Landvögte angebracht worden. Die Vögte dürften daher beachtliche persönliche Machtbefugnisse gehabt haben, die sie mit diesen Tafeln dokumentierten. Außerdem verdeutlichen die Inschriften, dass die Warten auch als Zollstation gedient hatten. In der Regel erhoben die Zollwachen nur einen Warenzoll und kein Wegegeld.
Bei Lichtel hat sich der älteste und der einzige unverändert gebliebene Landturm der Rothenburger Hege erhalten. Er muss 1458 vollendet gewesen sein, weil ab diesem Jahr der Hegeabschnitt zwischen Lichtel und Heimberg regelmäßig beritten worden ist. Als Torturm diente er bis in die Zeit um 1600.
In der frühen Neuzeit waren die Bewohner der Landhege fast ausnahmslos Bauern, Halbbauern oder Köbler (Kobel = Hütte; Tagelöhner ohne eigenes Gut). Allzu viele Handwerker gab es damals nicht. Die einzigen Arbeitsplätze für Nichtbauern befanden sich oftmals in den Mühlen innerhalb der Hege, wo um das Jahr 1500 an die 23000 Einwohner lebten.
Aber nicht alle rothenburgischen Dörfer lagen innerhalb der Landhege: Beispielsweise gab es welche im Aischgrund, weit außerhalb des ländlichen Distrikts der Freien Reichsstadt. Deshalb versuchten die Stadtoberen ihr zerstreutes Terrain immer wieder zu arrondieren und entfernt liegende Ortschaften zu verkaufen oder gegen fremde Besitzungen in der Hege einzutauschen. Wenngleich die Rothenburger Hege nach außen hin eine befestigte Grenze zu fremdem Territorium markierte, so handelte es sich in ihrem Inneren aber um kein einheitliches Landesgebiet.
Kein geschlossenes Landgebiet
Bauern und Halbbauern, auch die in der Rothenburger Hege lebenden, waren meistens „Holden“, d.h. Abhängige, die an ihre Herren mehrere Abgaben leisten mussten. Aufgrund der komplizierten Rechtslage hatten sie häufig gleich mehrere Herren: Territorial-, Grund-, Gerichts- und Leibherren. So gab es in Oberoest­heim 32 rothenburgische und 10 ansbachische Untertanen, in Unteroestheim 16 zu Rothenburg gehörende Höfe und 5 markgräfliche Gehöfte.
Vor allem die unterschiedlichen Patronatsrechte (Kirchenrechte) verdeutlichen, dass das Rothenburger Landgebiet nicht geschlossen war. Wenngleich die fränkische Metropole in einigen Ortschaften ihres ländlichen Territoriums das Patronatsrecht besaß, so gab es aber in Reubach und in Brettheim ansbachische Patronatsrechte, somit hatte dort der Markgraf als Landesherr das Recht, Pfarreien zu besetzen und Benefizien als Lehen zu vergeben.
Weil viele grundherrliche Rothenburger Bauern im markgräflichen Fraischgebiet (oberdt. „fraisch“ = Blutsgerichtsbarkeit) lebten, waren Streitigkeiten mit Kurfürst Albrecht III. Achilles von Brandenburg, als Markgraf Albrecht I. von Ansbach († 1486), zwangsläufig. Erst im 16. Jahrhundert diente die Landhege nicht mehr nur als Wehrgrenze und Schutzwall, sondern sie markierte zugleich auch die Demarkationslinie der Fraisch- bzw. Hochgerichtsbarkeit.Zuvor war es zu einer vertraglichen Übereinkunft mit dem Markgrafen von Ansbach gekommen, nach der die Hege ziemlich genau mit der Staatsgrenze der Freien Reichsstadt übereinstimmte.
Jetzt wurden an der Fraischgrenze sogenannte Fraischsteine aufgestellt: 50 bis 80 Zentimeter hohe Steine mit dem Rothenburger Wappen auf der einen und dem ansbachischen Wappen auf der anderen Seite. Einige dieser Steine sind noch heute erhalten. klam

Unser Autor Christian Klam (M.A.) ist Historiker und lebt in Berlin.