Leben wie Du und ich Jun01


Leben wie Du und ich

„Diakoneo“: Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Rothenburg

Es ist ein strahlend sonniger Nachmittag in Rothenburg. Ein Arbeitstag wie jeder andere. Mitten im Industriegebiet in der Erlbacherstraße 109 liegt das einstöckige Gebäude der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) „Diakoneo“. Bienenfreundliche Grünflächen und ein Außensitzbereich umrahmen die Arbeitsstätte von Menschen mit Behinderung. Seit 2008 gibt es sie in Rothenburg, die Zweigstelle der „Diakoneo“-Werkstatt Obernzenn, in der Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit körperlichen Beeinträchtigungen eine berufliche Perspektive bekommen können. An beiden Standorten sind 110 Beschäftigte aktiv.

Morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, eigenes Geld verdienen und Freude am Leben haben, das wünscht sich jeder Mensch. Die „Diakoneo“-Werkstatt ist ein solcher Ort, der es Menschen mit Handicap ermöglicht, eine ganz normale Arbeits- und Tagesstruktur zu erlangen.

Ob in der Metallverarbeitung, in der Verpackungsindustrie, bei der Textilveredelung oder im sogenannten „Green Team“, hier finden die Mitarbeiter Aufgaben, die zu ihnen passen und Freude machen. Dabei entstehen in der Stickerei personalisierte Hundehalstücher in vier Größen, fünf Farben und zwei verschiedenen Schriftarten in gold oder rosé. Auch Firmen- oder Vereinsbekleidung können mit Text und Logo bedruckt oder bestickt werden, je nach Kundenwunsch. Auch Einzelaufträge als Geschenk für die Oma sind hier kein Problem.

Ein Team aus Sozial- und Sonderpädagogen (von li. Michael Wagner, Stefanie Zeisel, Willi Ulm und Maximilian Schmidt) ermöglicht Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Foto: ul

Ein Team aus Sozial- und Sonderpädagogen (von li. Michael Wagner, Stefanie Zeisel, Willi Ulm und Maximilian Schmidt) ermöglicht Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Foto: ul

„Die eigentliche Herausforderung bei der Arbeit mit unseren Menschen ist Fähigkeiten und Talente zu finden und zu fördern“, so Willi Ulm, Leiter der Arbeits- und Tagesstruktur (ATS) der „Diakoneo“. Dabei beruft er sich auf das Wirtschafts- und Wahlrecht eines jeden Menschen. Helle Räume, modernste Maschinen und sozial kompetente Betreuer ermöglichen behinderten Menschen mit neuester Technik umzugehen und produktiv zu sein wie jeder andere auch.

Gelebte Inklusion
Die Werkstätten sind nur die Vorbereitung auf den freien Arbeitsmarkt. Genau das ist das Spezialgebiet von „Diakoneo“-Mitarbeiter Maximilian Schmidt. Er kümmert sich um Praktika und Außenarbeitsplätze. Sind individuelle Stärken und der Arbeitsbereich erst einmal gefunden, kann es losgehen. „Jetzt geht es um die Integration unserer behinderten Mitarbeiter in der öffentlichen Arbeitswelt“, erklärt der Sozialpädagoge mit Masterabschluss. Die Firmeninhaber sind anfangs skeptisch und haben das Gefühl, besonders auf Menschen mit Behinderungen achten zu müssen. Aber wenn sie sich einmal darauf eingelassen haben, merken sie die positive Wirkung auf das allgemeine Arbeitsklima, so die Erfahrung der „Diakoneo“-Mitarbeiter. „Unsere Menschen haben eine hohe Arbeitsmotivation, sind fast nie krank, wollen kaum Urlaub und sind sehr verantwortungsbewusst. Eigenschaften, die sich jeder Arbeitgeber nur wünschen kann“, beschreibt Willi Ulm die Grundeinstellung seiner Werkstatt-Mitarbeiter mit Handicap. Arbeitskollegen ohne Beeinträchtigungen wollen dem natürlich in Nichts nachstehen.

Johannes Wagner hat seinen Platz in der Näherei gefunden. Foto: Privat

Johannes Wagner hat seinen Platz in der Näherei gefunden. Foto: Privat

„Ziel der Zukunft ist es, ein Netzwerk von Arbeitgebern aufzubauen, die offen sind für die Einstellung unserer Arbeitnehmer“, so Stefanie Zeisel, Abteilungs- und Gruppenleiterin. Auch in wirtschaftlich-logistischer Hinsicht ist für Firmen die Schaffung von Arbeitsplätzen gerade bei Aufträgen mit kleiner Stückzahl interessant. Es lohnt sich kaum, Container mit Arbeitsmaterial für geringe Stückzahlen in die „Diakoneo“-Werstätten zu fahren und sie kurz darauf wieder abzuholen.

Neben der Arbeit gehört aber auch die Wohnraum- und Freizeitgestaltung dazu. Barrierefreie Wohnbereiche für Arbeitnehmer in Rothenburg sind offen für Erwachsene mit vorwiegend geistiger und bzw. oder mehrfacher Behinderung. Hier wird auch die Freizeitgestaltung groß geschrieben. Bildungangebote, Urlaubsreisen, sportliche und musische Aktivitäten, aber auch therapeutische Angebote werden organisiert. Die inklusive Theatergruppe „Schau mer X“, die eigene Stücke produziert, mit anderen Ensembles kooperiert und in der fränkischen Mundart-Theaterszene aktiv ist, gehört auch dazu. Für Sportskanonen gibt es die Möglichkeit, bei den Special-Olympics-Sportgruppen mit Basketball, Schwimmen oder Tischtennis aktiv zu werden, die an Veranstaltungen auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene teilnehmen. Die „Offene Hilfe“ (nicht nur in Rothenburg) richtet sich an Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Sie organisieren Fahrdienste, Schulbegleitung und professionelle Beratung im Hinblick auf Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, sozialrechtliche Fragen oder Fragen zur Pflegeversicherung. Im Vordergrund der Unterstützung stehen Selbstbestimmung und Inklusion.

Führerscheinprojekt
„Was meines Wissens einzigartig ist in mittelfränkischen Behindertenwerkstätten, ist die Zusammenarbeit mit örtlichen Fahrschulen, um den Betreuten die Möglichkeit zu geben, Führerscheine für Gabelstapler, Bulldogs oder gar LKWs zu machen“, so Ulmer und verweist auf die dann bessere Vermittelbarkeit von Menschen mit Behinderungen auf dem freien Arbeitsmarkt.

Die Pädagogen sind dabei Mutmacher und helfen für ihre Schützlinge und beraten Fahrlehrer wie auch Arbeitgeber. Aber nicht nur Menschen mit angeborenen Behinderungen sind integrationsbedürftig. Aktuell häufen sich psychische Erkrankungen junger Menschen aufgrund der Coronalockdowns und ihren Folgen. Tagesstrukturen in Schule, Arbeit und Studium sind zusammengebrochen. Oft sind Klinikaufenthalte oder ambulante Therapien unter Einsatz von Psychopharmaka notwendig. „Viele dieser jungen Leute brauchen danach Rehabilitation, um den schulischen oder beruflichen Alltag wieder bewältigen zu können“, weiß Ulmer. Diese Menschen ins Leben zurückzuholen ist seine Vision für die Zukunft.

Als Leiter der ATS der „Diakoneo“ macht er sich gerade bei der Agentur für Arbeit für eine Zusammenarbeit zur Wiedereingliederung psychisch belasteter Menschen stark. Die Hemmschwelle für die Betroffenen gilt es dabei zu überwinden. Das Rothenburger Team steht für ein Beratungsgespräch gerne zur Verfügung.

ul