Zink, Psalter & Harfe wach auf Mai01


Zink, Psalter & Harfe wach auf

Erhard Reichert: Ein Leben für Mensch, Musik und die Handwerkskunst

Nicht nur die „Gotische Harfe“ hat er gebaut, auch 30 andere historische Instrumente gehören in die Sammlung des Musikers Erhard Reichert aus Tauberzell. Foto: ul

Nicht nur die „Gotische Harfe“ hat er gebaut, auch 30 andere historische Instrumente gehören in die Sammlung des Musikers Erhard Reichert aus Tauberzell. Foto: ul

In sich ruhend wirkt der pensionierte Lehrer, Musikant und Hobbykünstler Erhard Reichert. Zu Hause an seinem Wohnzimmertisch, wo sich nicht selten seine Kinder mit den vier Enkelkindern versammeln, erzählt er aus seinem recht erfüllten Leben.

Gegenüber sitzt seine Frau, die alle seine nebenberuflichen Aktivitäten mit getragen und teilweise auch gemeinsam mit ihm geteilt hat. Einen vollen Alltag kennt er seit jeher. Wenn es einmal nichts zu tun gab auf dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern in Bettwar, dann saß Erhard Reichert nach der Schule gerne im Wald und hat einfach vor sich hin geschnitzt. Meist waren es kleine Flöten, die aus dem Schnitzwerk entstanden sind.

Für Musikinstrumente interessierte sich Erhard Reichert schon früh. Die ganze Familie war kirchenmusikalisch in der heimischen Gemeinde aktiv. „Mein Bruder ist seit 60 Jahren Organist in Bettwar“, erzählt er.„Mit zehn Jahren habe ich angefangen, im Bläserchor mitzuspielen“, sagt Erhard Reichert. Im Musikunterricht am Rothenburger Gymnasium lernte er auch die Geige und Bratsche zum Klingen zu bringen. „Hier habe ich die Liebe zur klassischen Musik von Händel, Bartók und Schütz entdeckt“, so der Musikfreund. Das handwerkliche Geschick dagegen hat er an sich selbst entdeckt. Mit seinem Taschenmesser in der Hosentasche oder einem Skizzenblock unter dem Arm genoss er es, nach der Schule die Natur auf einem Bild mit Farbe und Pinsel festzuhalten.

„Bis ich eines Tages von der Mutter eines Kameraden einen Malkurs mit Horst Rosemann aus Rothenburg gesponsert bekam“, freut sich der Hobbykünstler heute noch. Wie sein Vorbild und Lehrer Rosemann wollte sich der junge Reichert folgerichtig wie es schien, nach seinem Abitur an der Kunstakademie in München einschreiben lassen.

Musik liegt in der Luft

Wider Erwarten hatte es nicht geklappt. Im Nachhinein ist er froh darüber, denn in seiner Heimat im Taubertal haben sich im Laufe seines Lebens so viel mehr Gelegenheiten geboten, sich in der Musik auch im Kunsthandwerk zu entwickeln, als er es als Kunstlehrer je hätte tun können. „Künstlerische Freiheiten gibt es als Kunstpädagoge nicht wirklich“, erzählt er. Die Reise ging stattdessen nach München, um ein Studium auf Lehramt zu absolvieren. Zurück im schönen Taubertal fand Erhard Reichert seine „bessere Hälfte“ und heiratete im Jahr 1973.

Ein Berufsleben lang arbeitete der heute 72-Jährige mit Herzblut als Grundschullehrer in Uffenheim und hat so manch einen seiner Sprösslinge zur Musik geführt. Auch seine kunsthandwerkliche Gabe konnte er zum Beispiel beim Bau von Segelfliegern mit seinen Schülern samstags in seinem Garten weitergeben.

Über 35 Jahre und ebenso lange leitete Reichert den Musikverein Tauberzell und den örtlichen Frauenchor. „Es war eine erfüllte Zeit mit Proben, Auftritten und der Ausbildung von Jungbläsern“, schwärmt er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Alle diese Erfahrungen waren nur Vorboten von dem, was noch kommen würde. „Völlig unverhofft kam ich zur ,Rothenburger Stadtpfeifferey‘ durch deren Gründerin Gudrun Schneider ich einen tiefen Einblick in die spätmittelalterliche Musik bekam“, erzählt der spätere Instrumentenbauer.

Die Musikgruppe besteht nunmehr seit 50 Jahren und knüpft an die Stadtpfeiferzünfte deutscher Reichsstädte des ausgehenden Mittelalters an. „Den ersten Eintrag über die Einstellung eines Rothenburger Stadtpfeifers findet man in den Chroniken der Stadt aus dem Jahre 1405“, so Reichert. „Item wir haben bestellet barhoolmeus heken zu eyn statt pfeffer“, heißt es wörtlich. Märchenaufführungen wie Aschenputtel und König Drosselbart und Konzerte wie „Kirche, Kemate Kneipe“ oder das „Hochzeitsfest um 1600“ gehörten auch zum Repertoire. Höhepunkte dieser Zeit waren Aufführungen zum 700-jährigen Geburtstag der heiligen Elisabeth, Pilgerlieder aus den „Cantigas de Santa Maria“ und das 500-jährige Gedenken an die Reformation.

Historische Instrumente

„Können sie auch das Zink spielen?“, fragte Gertrud Schneider eines Tages den begabten Lehrer Reichert. Das war der Startschuss nicht nur zum Spielen und Sammeln von spätmittelalterlichen Instrumenten, sondern forderte den handwerklich talentierten Hobbykünstler auch zum Eigenbau der Klangkörper heraus. Eines seiner selbst gebauten Instrumente ist die gotische Harfe (Foto: Seite 88). Sie ist mit dem Motiv eines Kopfes verziert, der auch auf dem Torbogen der Kathedrale von Santiago de Compostela „Portico del a Gloria“ (aus dem Jahr 1230) zu finden ist. Und wer hat diese Harfe gefertigt? Erhard Reichert, der als neugeborener Instrumentenbauer heute eine Sammlung von mehr als 30 historischen Exemplaren aus dem ausgehenden Mittelalter sein Eigen nennen kann. Für ihn war es die perfekte Kombination aus Handwerkskunst und der Liebe zur Musik.

Parallel zu der Stadtpfeifferey in den 90er-Jahren war Reichert auch noch mit dem Trio, den „Lehrdreiern“ unterwegs. Auch hier kamen unter anderem historische Instrumente beim Spiel von Musikstücken aus dem Mittelalter und der Renaissance zum Einsatz. Das Tüpfelchen auf dem „i“ war das Spiel in der Bläsergruppe „Reichstadt-Blech“ zwischen 2015 und 2020 mit Konzerten rund um Rothenburg. Für Erhard Reichert war und ist Musik immer ein Seelenbalsam. Das ist, was nach seinem Dafürhalten Musik bewirken sollte.

Erhard Reichert schnitzt in seiner Freizeit Kasperle-Puppen,wie den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (re.).Foto: ul

Erhard Reichert schnitzt in seiner Freizeit Kasperle-Puppen, wie den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (re.). Foto: ul

Aber mit all diesen Aktivitäten ist noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Wenn jemand sein handwerkliches Geschick braucht, ist er zur Stelle. Aus der anfänglichen Hobbyschnitzerei entstand auch die viel zitierte Tauberzeller Krippe. In der mit mehr als 80 ca. 40 cm hohen Holzfiguren bestückten Weihnachtsdarstellung haben auch Freunde und Kollegen aus der „Stadtpfeifferey“ ihren Platz gefunden.

Neben mit Schnitzereien verzierten Weinfassböden, die Winzermotive aus der Herrschaftszeit der 500-jährigen Geschichte der Hohenzollern zeigt, meißelte Erhard Reichert auch das Bild des „Agnus Dei“ (Lamm Gottes) in einen steinernen Altar in den Tauberzeller Weinbergen ein. Ein drei Meter hoher Hase für den Altbürgermeister gehörte auch zu seinen Aufträgen. So langsam ging der Musik-Allrounder und Kunsthandwerker im Jahr 2014 auf die Rente zu. „Ich muss gestehen, dem habe ich mit etwas Unwohlsein entgegengesehen“, erinnert er sich.

Aber völlig unverhofft warteten nach dem Eintritt in den Ruhestand schon ganz neue Aufgaben auf ihn. Neben den vier Enkelkindern, die er mit seiner Frau zweimal in der Woche besucht, fand sich während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 die Möglichkeit, Deutschkurse für Flüchtlingskinder zu geben – eine sehr erfüllende Aufgabe mit dankbaren Kindern, wie Reichert fand. Langweilig geworden ist es den Reicherts nie.

„Ich weiß gar nicht, wie wir unsere ganzen Aktivitäten mit unserem Berufsleben überhaupt unter einen Hut bringen konnten“, blickt das Ehepaar verwundert zurück. Auf die Frage, ob ein solcher Gabenreichtum an Musikalität und künstlerischem Geschick nicht auch eine professionelle Richtung in seinem Leben hätte nehmen können, sagt er nur: „Ich bin ein Autodidakt und Handwerker und freue mich, wenn ich etwas für meine Mitmenschen tun kann, mehr nicht“.ul