Der Baumflüsterer
9. März 2022
Der Baumflüsterer
Historische Obstsorten in Neusitz
Immer wenn der Baumwart und Landschaftspfleger Clemens Nähr mit seinem Crossbike an der Neusitzer „Berghang-Flurfläche 289“ unten vorbeikam, hatte er das fertige Bild eines „North-Shore“-Mountainbike-Parcours vor Augen.
Schnell war er aus – der Traum, denn wie es sich herausstellte, handelt es sich bei diesem überwucherten „Baameländle“ um ein Landschaftsschutzgebiet. In den 50er und 60er-Jahren hatte der 1. Bürgermeister Johann Vogel auf seiner 1,2 ha großen Fläche neben 320 historischen Obstbaumsorten auch Beerenfrüchte angebaut und regional verkauft. Noch heute kennzeichnen Metallrohre im Boden befindliche Wasseradern, auf denen, laut des Altbürgermeisters, Apfelbäume sehr schlecht wachsen können.
Älteren Neusitzern ist der „Unkraut-Vogel“, wie er auch von seinen Schülern in der Landwirtschaftsschule liebevoll genannt wurde, noch gut im Gedächtnis. Seit 2016 ist Clemens Nähr (in der Landwirtschaftlichen Hochschule Triesdorf) als zertifizierter Baumwart damit beauftragt, die Berghangfläche zu „entbuschen“.
Mit seinem Fachfreund und Pomologen Jürgen Mortag aus Thüringen entdeckte er unter den Apfelbäumen die noch Früchte tragende, fast in Vergessenheit geratene Sorte „Ananasrenette“ aus dem Jahre 1820 und die englische „Galloway Pepping“ (1871). „Die musst Du retten“, meinte Mortag.
Anzucht von Jungpflanzen
Die Vision einer Schau-Baumschule mit historischen Apfelsorten war geboren. Gemeinsam mit dem Gartenbauverein Neusitz und der örtlichen Gemeinde wurde das Projekt in die Tat umgesetzt. Finanzielle Unterstützung kommt auch aus dem Regionalbudget der Integrierten Ländlichen Entwicklung (ILE). Clemens Nähr wurde damit betraut, historische Apfelsorten aus dem „Flurgelände 289“ in seiner ganzen genetischen Vielfalt und Biodiversität wieder zu vermehren und abgestorbene Bäume auf dem Grundstück zu ersetzen.
„Die widerstandsfähigen und vitaminreichen Apfelsorten vermehre ich in meiner Garage“, erzählt der Naturfreund, der im Rothenburger Hochzeitswald 822 Obstbäume pflegt und für die Landschaftspflege von 2,8 ha Land in der Region zuständig ist.
In der heutigen Zeit gibt es immer mehr Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Dazu gehören auch allergische Reaktionen bei Äpfeln. „Das hat es früher nicht gegeben“, weiß der Obstliebhaber. Schuld daran sind Überzüchtungen, die einen massiven Verlust von natürlichen und gesundheitsfördernden Polyphenolen in der Frucht bewirkt haben. Der Supermarkt Apfel „Pink Lady“ beispielsweise hat einen Polyphenolgehalt von nur 438 mg pro Liter Saft. Dagegen wartet die alte Sorte „Boskop“ mit 1970 mg pro Liter auf. Es lohnt sich also die guten alten Apfelsorten wieder in die Landschaft zu integrieren.
Alte Sorten bestimmen
Zu den „Alte Sorten“ gehören alle, die vor 1930 gezüchtet wurden. Spätere Züchtungen haben in der Regel nur drei genetische Urväter. „Golden Delicious“, „Jonathan“ und „McIntosh“. Gerade diese Apfelsorten sind sehr krankheitsanfällig. Deshalb waren mehrere Spritzungen zur Schädlingsbekämpfung jährlich erforderlich, um gute Erträge zu erzielen.
Seit sechs Jahren ist Nähr gemeinsam mit dem Triesdorfer Fachdozenten und Pomologen Hans Joachim Bannier mit der Kartierung der Berghangfläche 289 befasst. Der Apfelkenner ist in der Lage, 500 Sorten aus dem Stegreif zu erkennen – eine unvorstellbare Menge, wie Clemens Nähr findet.
Aber woran erkennt man die verschiedenen Apfelsorten, von denen es allein in Deutschland 2 000 gibt? Als Unterscheidungsmerkmal dienen u. a. der Apfelkern in seiner Form und Farbe, das Kerngehäuse, das manchmal Herz- oder sternförmig sein kann, die Stiellänge und die Stielgrube, die sich eher flach oder rund darstellt, oder der Frucht- und der Blütenkelch, um nur einige zu nennen. Dagegen ist die Fruchtfarbe kein zuverlässiges Merkmal zur Sortenbestimmung. Eine etwas kühlere Nachttemperatur kann den Apfel stärker ins Rötliche färben.
„Johann Vogel hatte vier Bäume pro Sorte angebaut, deren Bestimmung noch nicht vollständig abgeschlossen ist. „Das ist jetzt meine Wissenschaft“, erklärt Nähr. Und warum heißt es eigentlich „Baumschule“? „Ganz einfach, – durch das Zusammenfügen (Veredelung) von der Unterlage (stark wachsender unterer Teil mit Wurzel) mit der eigentlichen Apfelsorte (einjähriger Ast oder Edelreis) entsteht ein „Baumschulkind“, das zu einer bestimmten Stammhöhe „aufgeschult“ (herangezogen) wird.
Ob man also die Apfelsorte „Boskop“ oder „Topaz“ erntet, hängt vom verwendeten Edelreis ab. Der kleine Baum geht also von dem Zeitpunkt seiner Vermehrung „zur Schule“, bis er an seinem endgültigen Standort gepflanzt werden kann.
Um das zu erreichen, muss eine gute Nährstoffversorgung erfolgen. Merino-Schafwolle und das Abdecken der Erde mit Hackschnitzeln trägt maßgeblich zu einem gesunden Wachstum und zur Fruchtförderung bei. Auch die Verwendung von Menschenhaaren statt Schafwolle als stickstoff- und schwefelhaltiger Düngung bewirkt Wunder – alles Tipps des Baumkenners Nähr.
Mittlerweile zieht er besondere Kraft aus seiner Arbeit mit den historischen Kulturapfelsorten. Zu Hause wird er deshalb schon als „Baumflüsterer“ bezeichnet. ul