Andenken

1. Juli 2022

Andenken

Koffer voller Erinnerungen für Demenzkranke

Schlager wie „Ein Freund, ein guter Freund“ von Heinz Rühmann, ein Wäschestampfer oder Bilder von Fußball-Legenden wie Uwe Seeler – all das weckt Erinnerungen. Ihr ganzes Elternhaus steckt voller Gegenstände aus den 50er und 60er-Jahren.

Christa Mc Naughton aus Brunst bei Leutershausen ist heute selbst schon im Ruhestand. Sie hat mehr als 45 Jahre als Kinderkrankenschwester in der Cnopfschen Klinik und als Beschäftigungstherapeutin für Demenzkranke in der Tagespflege Rothenburg gearbeitet.

„Die Leute wollen immer etwas hören oder etwas in die Hand bekommen. Das ist das Einzige, was sie oft noch wahrnehmen“, sagt sie. Von einer Tante hatte sie einen Koffer gefüllt mit alten Sachen bekommen. Den hatte sie eines Tages ihren demenzkranken Senioren gezeigt. Schon wenn sie den Raum in der Tagespflege betritt, kommen Kommentare wie „Ah, so einen Koffer hatten wir auch mal“. Oder sie rufen ihr freudig entgegen: „Christa, was hast Du uns heute mitgebracht?“

Christa Mc Naughton setzt ihre Schützlinge in einen Kreis. Jeder darf sich ein Stück zur Hand nehmen und in alten Erinnerungen schwelgen. Promt erzählen die Menschen Geschichten aus ihrem Leben, an denen sich viele Mitpatienten mit eigenen Erlebnissen beteiligen. Wenn die Senioren nach Hause kommen, stellen selbst die Angehörigen fest, wie aufgeweckt und redefreudig sie plötzlich sind. Selbst bei stark Demenzkranken kommen lichte Momente zutage wie beispielsweise der gemeinsame Waschtag mit der Mutter an jedem Montag der Woche.

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können.“ Mit diesen Worten beschreibt der Dichter Jean Paul die Bedeutung und den Wert des Erinnerns und Erzählens. Mittlerweile hat die Rentnerin über 60 alte Koffer gefüllt mit Gegenständen zu Themen aus den verschiedensten Lebensbereichen wie Hochzeit, Werkzeuge unterschiedlicher Handwerksberufe, Wasch- oder Nähutensilien und einen Kofferplattenspieler mit Schlagern, die an die erste Liebe oder Tanzabende erinnern. Früher bekam jedes Brautpaar eine Hochzeitsbibel geschenkt, die vom Pfarrer mit Widmungen versehen war. „Wussten Sie, dass in den 50er-Jahren so manche Braut dunkel gekleidet war oder dass ganze Pferdewagen, gefüllt mit der Aussteuer der Braut ins neue Heim der Eheleute transportiert wurden?“, fragt Christa Mc Naughton beim Anschauen der Hochzeitsutensilien. Auch junge Generationen lernen durch die Koffer vieles aus dem Leben ihrer Angehörigen.

Das gilt auch für die Ost-West-Beziehungen. Einige Ostdeutsche haben in Westdeutschland wie auch in Bayern ein neues zu Hause gefunden. „Nach der Wende sind wir auf der Suche nach Erinnerungsstücken in den Osten gefahren“, erzählen die Mc Naughtons. „Damals standen 40 Prozent der Mietwohnungen leer. Toiletten waren oft noch im Treppenhaus“, erinnern sie sich heute noch.

Erinnerungen zum Anfassen

Angeregt durch ihren gemeinsamen Sohn, der in der schönen Kulturstadt Leipzig lebt, sind die Mc Naughtons auf so manch typischen Gegenstand der ehemaligen DDR gestoßen. In einer Lagerhalle in Chemnitz sahen sie meterlange Regale mit den gleichen Fernsehern oder Nähmaschinen. Eine Produktvielfalt wie im Westen gab es dort nie.

Auch typisch ostdeutsche Gegenstände des alltäglichen Lebens rufen unter Demenzpatienten so manche interessante Geschichte wieder ins Gedächtnis. Aber Erinnerungen kommen nicht nur durch Anfassen zurück. „Der gute alte Schneebesen mit Handkurbel wird oft eingesetzt, um Sahne zu schlagen“, erzählt die kreative Rentnerin. Dafür setzt sie am liebsten die Männer ein, denn es braucht Ausdauer, bis die Sahne fest wird.

Manchmal lässt sie Bierdeckel alter Sorten in Herzform auf Korkplatten kleben. Dabei kommen besonders den Herren alte Wirtshausgeschichten in den Sinn. Auch Kleinkunstaktionen wie Malstunden kommen bei den vergesslichen Menschen gut an. Viele Leute behaupten, dass sie nie malen konnten. Oft werden sie bei musisch künstlerischer Beschäftigung eines besseren belehrt und es werden so manche späte Talente entdeckt. Hochzeitsschleier, Strickliesel oder Poesiealbum, vieles aus den Koffern von Christa Mc Naughton erinnert auch an ihre eigene Familiengeschichte.

ul

Christa Mc Naughton und ihr Mann sammeln heute noch Dinge wie Hochzeitsutensilien aus längst vergangenen Zeiten auf Flohmärkten. Fotos: ul
Fotos: privat

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