Der amerikanische Europäer
10. November 2022
Der amerikanische Europäer
James Derheim kennt ganz Europa – aber leben will er nur in Rothenburg
Er hätte Paris, Rom, London, Venedig oder auch ein irisches Dorf mit Blick über das Meer auswählen können. Hat er aber nicht. James Derheim hat sich für Rothenburg entschieden. Seit den 90er-Jahren lebte er stets ein paar Monate im Jahr in der Tauberstadt. Seit 2020 ist er nun das ganze Jahr über hier. Er hat ein Appartement mit sonniger Terrasse mitten in der Altstadt – und er findet sein Leben in der Tauberstadt einfach genial.
Wer ist dieser James Derheim, den gefühlt jeder in Rothenburg kennt? Das steife deutsche „Sie“ hat bei dem smarten Amerikaner keine Chance; er spricht zwar recht gut deutsch, aber lieber ist ihm englisch – und er hat die Gabe, das Leben zu nehmen, wie es kommt. Chancen sehen, zupacken, etwas daraus machen. Und genau das hat ihn auch nach Rothenburg geführt.
James Derheim erinnert sich noch an seinen ersten Aufenthalt hier. Es war Winter, Februar 1990. „Keine Ahnung, warum wir zu so einer Zeit hierhergekommen sind“, sagt er rückblickend. Derheim war Fotograf für „The Stars and Stripes“, eine Zeitung, die für die Truppen der US-amerikanischen Streitkräfte publiziert wird. Gemeinsam mit einem Redakteur hat er an einer Story über Rothenburg gearbeitet. Derheim hat damals ein Foto von einem Mann mit Roller und Anhänger gemacht, als dieser im Schneegestöber durch den Siebersturm gefahren ist. Das Bild wurde groß gedruckt. „Später habe ich den Mann noch öfter gesehen“, sagt er.
An diesem kalten Februartag war das „Stars and Stripes“-Team aber schnell wieder weg. Vielleicht ging es weiter nach Paris oder sogar nach Afrika oder Asien. „Das war damals einfach ein Job für mich. Ich bin so viel gereist“, so Derheim.
Über die Navy in die Welt
James Derheim ging Ende der 80er-Jahre zur US-Navy und kam 1989 nach Deutschland. Zuvor hat er in den USA ein Journalismusstudium begonnen und war als Fotojournalist der einzige Navy-Mitarbeiter der deutschen „The Stars and Stripes“-Ausgabe. Während seiner Zeit bei der US-Navy hatte er auch Einsätze in Alaska und Japan.
In Alaska hat er eine eigene Radiosendung am frühen Morgen moderiert, in Japan war er der PR-Vermittler zwischen den US-Streitkräften und den japanischen Behörden. „Ich kann noch heute ein Bier auf Japanisch bestellen“, sagt er schmunzelnd.
Wie sein Name „Derheim“ vermuten lässt, hat er deutsche Wurzeln. „Wir dachten, mein Urgroßvater kommt aus Bremen“, erzählt er. Dem war zwar nicht so, wie sich später herausstellte, aber als er in Deutschland war, fuhr er nach Bremen und machte Fotos, packte einen Bierdeckel und eine Speisekarte dazu und machte daraus ein Geschenk für seinen Großvater zum 80. Geburtstag. „Das kam riesig an und ich dachte, das könnte doch ein Geschäftsmodell sein“, erzählt er.
Viele Amerikaner haben deutsche Wurzeln und wollen darüber etwas wissen. Also hat er 1 000 Dollar, eine große Summe für den Mittzwanziger, in Werbung im Raum Kalifornien, Los Angeles, investiert. „Genau eine Kundin hat sich gemeldet“, erzählt er.
Mit seiner damaligen deutschen Freundin ist er dann im VW-Scirocco nach Rostock und Ribnitz gefahren, hat Haus und Verwandte der Frau gefunden und fotografiert. „Ich glaube, die stehen heute noch in Kontakt“, sagt er.
Die Nachfrage boomt
Über diese Kundin erfuhr er von Ahnenforschungsvereinen. Investierte noch mal 400 Dollar in eine neue Schreibmaschine und machte auf sich aufmerksam. „Und so kam das Geschäft ins Rollen“, erzählt er rückblickend.
Montag bis Freitag war er Fotojournalist bei „The Stars and Stripes“, am Wochenende hat er Fotos für Menschen aus den USA gemacht, die über ihre Wurzeln Bescheid wissen wollten. Bis Mitte 2000 hat James Derheim mindestens 3 000 Städte und Dörfer in Deutschland, Italien, Polen, Irland und England fotografiert.
„Jedes Jahr war ich in etwa 100 deutschen Städten“, erinnert er sich. Von den persönlichen Schicksalen und Verbindungen kann er bewegende Geschichten erzählen, die er bei seiner fotografischen Ahnenforschung erlebt hat. „Irgendwann habe ich mit dem ursprünglichen Hobby mehr Geld verdient als bei der Navy“, so Derheim.
Eines Tages fragte ein Ehepaar, ob sie ihn bei seiner Fototour begleiten durften. Why not? Der Mann war auch aus der Zeitungsbranche, schrieb im Anschluss daran einen Bericht „und über Nacht war ein neues Geschäftsmodell entstanden“, erklärt der Reiseführer Derheim. Im Jahr 1995 gründete James Derheim dann die „European Focus Private Tours“.
Im individuellen Rahmen zeigt er Interessierten ganz Europa. Das kann ein Ehepaar sein oder eine Kleingruppe bis zu neun Personen. Etwa 20 Länder hat er im Programm, von Österreich bis Wales ist alles dabei, was Europa ausmacht. Im September war er auf seiner 322. Tour. „Meine Klienten kommen vorwiegend aus USA, Kanada, Australien, den Philippinen und aktuell aus Kuwait“, erzählt er. Bis zu 90 Prozent davon seien Stammgäste, so Derheim. Manche unternehmen schon die zwölfte Tour mit ihm.
Zu diesen Langzeitfans gehören auch Arthur Casement und Cindy Livingston. Kurzentschlossen hat Derheim die Tour im Jahr 2018 geändert und die beiden nach Venedig gebracht. Dass Liebe in der Luft lag, hat er wohl gespürt, denn noch am selben Abend ist Arthur vor Cindy auf einer Brücke Venedigs auf die Knie gegangen und hat ihr einen Antrag gemacht.
Die Gäste wissen die langjährige Erfahrung des Reiseführers zu schätzen. James Derheim kennt die bekannten, aber auch die unbekannten Winkel Europas. Er weiß, wo das schönste Bed &Breakfast in Irland ist, wo die Bratwurst am besten schmeckt und von welchem kleinen Café man einen außergewöhnlichen Blick über den Rhein hat. Nur wenige Deutsche dürften ihr eigenes Land so gut kennen wie er. Von Europa ganz zu schweigen.
Etwa 12 bis 14 Touren macht er im Jahr – und Rothenburg rückte damit in den Fokus. „Mindestens vier Touren gingen jedes Jahr nach Rothenburg“, erzählt er. Und natürlich gehörte eine Nachtwächterführung dann zum Programm. So lernte er den Rothenburger Nachtwächter Hans Georg Baumgartner kennen. Mittlerweile verbindet die beiden eine enge Freundschaft. Baumgartner hat James Derheim Ende der 90er-Jahre sein erstes Appartement in Rothenburg vermittelt. James Derheim hat ihn animiert, ein Video zu realisieren. „Drei Jahre haben wir daran gearbeitet“, so Derheim.
Rothenburg, mehr als eine Wahlheimat
Hat er sonst die kalten deutschen Winter in Sarasota in Florida verbracht, so hat er sich seit März 2020 entschlossen, ganzjährig in Rothenburg zu leben. Rothenburg sei nahe zu großen Flughäfen, erinnere ihn an seine ländlich geprägte Heimat Minnesota, ist eine sehr überschaubare Stadt und kenne man erst einmal einige, kommen schnell immer mehr dazu, beschreibt er die Vorzüge.„Und man hilft sich hier untereinander“, fügt er an.
Corona hat sein „Tourgeschäft“ hart getroffen. Alle Touren wurden verschoben. Eine depressive Zeit. Aber James Derheim wäre nicht, wer er ist, wenn ihm nicht etwas eingefallen wäre. „Ich habe Fotos und Videos für Nachbarn gemacht. For free“, sagt er. Für Hotels, Geschäftsleute und auf Anfrage auch für das RTS (Rothenburger Tourismus Service) macht er mal schnell ein Foto. Mittlerweile schwört er auf sein Handy statt der schweren Kameraausrüstung. „So habe ich viele neue Leute kennengelernt“, sagt er.
Und nun geht es ja auch wieder langsam los. „Die Amerikaner wollen reisen“, weiß Derheim. Seine Touren für 2022 sind weitgehend ausgebucht und er prophezeit auch ein großartiges Tourismusjahr für 2023.
Den Optimismus, den er selbst ausstrahlt, bringt er auch mit einem besonderen Gimmick in die Welt. James Derheim ist der einzige Importeur von Bouncies für Nord-Amerika. Bouncies sind jene sympathischen Figuren, die in Souvenirläden von der Decke hängen und auf- und abfedern. Auch das ist eine Geschäftsidee, die hier ihren Anfang nahm. Derheim sah die Bouncies im Rothenburger Laden von Freunden. Er konnte die Nachfrage erst nicht recht verstehen. Damals betrieb er mit seiner Ex-Frau in Florida eine Art europäischen Souvenirladen. Er nahm 30 Stück mit und innerhalb eines Tages waren sie verkauft. „Die Menschen lieben Bouncies“, ist er sich seitdem sicher. James Derheim entwickelt mittlerweile eigene Figuren, darunter Albert Einstein, Mozart oder ein Känguru. Seine Produzenten sind in Ungarn und Tschechien.
Alles hängt bei ihm irgendwie mit Rothenburg zusammen – sogar seine neue Liebe, die er, wie könnte es anders sein, in der Tauberstadt kennengelernt hat. Er beschreibt seine Empfindungen, wenn er durch die Stadt geht als „friendly feeling“.„Rothenburg is my home“, sagt er rundum zufrieden. am