Menschen beistehen Sep01


Menschen beistehen

Frei wie ein Vogel fühlt sich Yvonne Bär als Türmerin auf dem Rathausturm. Foto: ul

Frei wie ein Vogel fühlt sich Yvonne Bär als Türmerin auf dem Rathausturm. Foto: ul

Yvonne Bär ist Türmerin von Rothenburg und berät Kranke

„Ich bin eine geborene Vogel, heiße heute Bär mit Nachnamen und wohne am Katzenbuckel in Rothenburg“, waren ihre ersten Worte, als eine Turm-Besucherin das Gespräch mit Yvonne Bär suchte. Ja, richtig, sie ist Türmerin auf dem Rothenburger Rathausturm und hat nach 17 Jahren so manche Anekdote zu erzählen.

Menschen lagen ihr schon immer am Herzen. In ihrer Schweinfurter Familie gibt es viele Krankenschwestern: „Ich war zehn Jahre alt, als meine Tante mit 19 Jahren ihre Ausbildung als Krankenschwester antrat“, erinnert sie sich. Je mehr ihre Tante von der Tätigkeit und den schönen Momenten mit kranken Menschen erzählte, wuchs ihr Interesse an dieser Arbeit.
In der Würzburger Rotkreuzklinik hat Yvonne Bär ihre Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Verschiedene Stationen als Anästhesie-Schwester in Werneck und auf der Neurologie in Neustadt-Saale folgten. Aber glücklich ist sie nicht geworden. „Ich war immer gestresst, es gab nie genug Zeit für die Patienten und die Stationen waren stets unterbesetzt“, sagt sie.

Erst in der TCM-Klinik im Steigerwald für chronisch Erkrankte hatte sie endlich mehr Zeit, sich um das Wohl der Menschen zu kümmern. Mit Chinesischer Medizin, biologischen Naturheilverfahren, kombiniert mit schulmedizinischen Ansätzen wurde den Patienten geholfen.

Von der Pflege in den Turm

Die gebürtige Schweinfurterin, lernte im Jahr 2009 ihren künftigen Ehemann Marcus Bär kennen. Die Rothenburger kennen ihn als Mitglied der Band „Holz Klang“ unter dem Spitznamen „Chicken“. „In unserer Kennenlernphase schrieb er seinen ersten Song, den ‚Chicken Blues‘. Ich war eine der Ersten, die ihn hören durfte“, erzählt sie. So kam sie nach Rothenburg, stetig auf der Suche nach alternativen Berufszweigen. Eine Anstellung als ambulante Krankenschwester in der Diakonie kam gelegen. „Hier ist es noch möglich, sich ein wenig mehr Zeit für den Patienten zu nehmen“, erklärt Yvonne Bär. Allerdings ist sie immer allein und die körperliche Belastung, beispielsweise beim Waschen der meist alten Menschen ist enorm hoch.

Im Jahr 2016 stieß sie auf eine Ausschreibung für die Stelle als Türmerin im Rothenburger Rathausturm. „Das könnte etwas für mich sein“, dachte sie sich und bekam anfangs als Aushilfe und später als Angestellte die Möglichkeit, Menschen aus aller Herren Länder zu begegnen und ihnen die historische Stadt ein wenig näher zu bringen.

„Meine Berufung, Menschen zu begegnen, sehe ich heute auch in meiner Arbeit hoch oben über den Dächern von Rothenburg als Türmerin im Rathausturm“, erzählt sie begeistert. Hier hat sie Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Das mächtige Rathaus der Stadt besteht aus zwei Teilen. Das gotische Gebäude mit dem Rathausturm stammt aus der Zeit zwischen 1250 und 1400.Der vordere Renaissancebau wurde in den Jahren 1572 bis 1578 errichtet, die Arkaden wurden 1681 angefügt.

Morgens um 9.15 Uhr beginnt der Aufstieg zu ihrem Arbeitsplatz über den Dächern von Rothenburg. Ist das Haupttor aufgeschlossen, das Computerprogramm für das Drehkreuz am Eingang hochgefahren, beginnt der Aufstieg über 222 Stufen, zwei Zwischenplattformen und einer Gangbreite von nicht einmal 1,5 Metern hoch in das winzige Kassenhäuschen auf 60 Metern Höhe.
Der Einlass ist aus Brandschutzgründen auf 20 Personen begrenzt, auch weil es oben angekommen zunächst eine schmale Leiter zu bezwingen gilt und die Aussichtsplattform sehr eng ist. Und schon kommen die ersten Turmbesucher. „Wenn sie wollen, dürfen sie als die ersten Gäste die Stadt mit einem ‚Guten Morgen Rothenburg‘ begrüßen“, ermutigt sie die ersten Ankömmlinge des Tages. Manche stellen sich auf die Aussichtsplattform und sagen es ganz leise. Andere rufen die Worte lauthals über die Stadt aus.

Meist spricht Yvonne Bär die Leute auf Englisch an, auch Deutsche, die oft in englischer Sprache antworten. „Ich bin mit drei amerikanischen Kasernen im Schweinfurter Umfeld aufgewachsen. Deshalb bin ich der Sprache mächtig“, erzählt sie.

Auf die Frage, ob sie als Türmerin auch nach der Historie oder den Sehenswürdigkeiten der Tauberstadt gefragt wird, sagt sie nur: „Klar, ich habe vieles schon gewusst, den Rest habe ich mir aus dem Stadtführer angelesen“, erklärt sie weiter. Immer wieder fallen ihr die unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Verhaltensmuster von den Touristen aus verschiedensten Ländern auf.

Vor dem Ukraine-Krieg prägten vor allem Japaner das Stadtbild. Sie verhalten sich immer perfekt durchstrukturiert und haben immer einen klaren Zeitplan über ihren Aufenthalt im Urlaubsort. „Die Eintrittsgelder werden vor einem Besuch im Turm ermittelt und liegen an der Kasse passend auf der Hand“, sagt Yvonne Bär lächelnd.

Die Amerikaner werden langsam wieder mehr und sind eher unauffällige Menschen. Ganz im Gegensatz zu den Italienern, die in Familiengruppen den Turm besteigen. Ihre temperamentvollen, lauten Stimmen hört man schon, bevor sie die Aussichtsplattform erreicht haben. Die Skandinavier hingegen sind eher ruhig und bedacht. Holländer haben immer einen Witz auf den Lippen und zeigen so gut wie nie ernste Minen.

Die Chinesen sind immer auf der Überholspur. Sie drängeln sich meistens vor.

„Ich genieße es einfach, statt von Kranken immer von fröhlichen Menschen mit ihren Geschichten umgeben zu sein“, schwärmt Yvonne Bär. Es ist schon erstaunlich, wie viele Besucher sich mit Gebrechen auf den Turm begeben. Ein Veteran mit zwei metallenen Beinprothesen hat sich die schmalen Stiegen herauf getraut. Ein Parkinsonpatient hat dasselbe geleistet.
Schon lange vor ihrer Zeit als Türmerin im Jahr 2000 ist die Idee einer Praxis für präventive gesundheitliche Beratung gewachsen.

Mit ihren Erfahrungen in Akupressur, Massagen, Chi Gong und ihrer Zusatzausbildung als Ernährungsberaterin träumt sie von ganz individuellen Möglichkeiten, Menschen gesundheitlich zu fördern und ihnen mit Herzblut zu begegnen. Dinge, die sich als Krankenschwester, heute auch Pflegefachkraft bezeichnet, in keiner Weise mehr umsetzen lassen.

„Mal sehen, vielleicht kann ich meine Arbeit im Turm einmal mit einer Beratungspraxis kombinieren“, hofft die vielseitig aktive junge Frau. Denn neben ihrer Arbeit in der Diakonie, die sie brauchte, während der Rathausturm in der Coronazeit geschlossen war, ist sie auch noch als Potential-Analytikerin beim Berufsförderzentrum Schweinfurt e. V. tätig. Dabei unterstützt sie Siebtklässler bei der beruflichen Orientierung nach einem bestimmten System. „Das mache ich nur, wenn ich ein freies Zeitfenster habe und kann die Arbeit gleich mit einem Besuch bei meiner Familie verbinden“, sagt sie. ul