Was einer alleine nicht schafft Mrz03


Was einer alleine nicht schafft

Familie Sipos aus Ungarn setzt sich in Rothenburg für Migration ein

Niemand flieht freiwillig oder verlässt sein Zuhause ohne irgend einen triftigen Grund. Finanzielle Not, Verfolgung oder Kriege können Gründe sein, die eigene Heimat und das gesamte soziale Umfeld hinter sich zu lassen. Familie Sipos aus Ungarn kennt die Situation nur zu gut.

Familie Sipos ist ein gutes Beispiel für gelungene Integration. Heute helfen sie anderen Neuankömmlingen. Foto: ul

Familie Sipos ist ein gutes Beispiel für gelungene Integration. Heute helfen sie anderen Neuankömmlingen. Foto: ul

„Ich konnte meine kleine Familie finanziell kaum durchbringen“, erzählt Peter Sipos, der seit nunmehr 20 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Er verließ seine Heimat ohne seine Frau und sein neugeborenes Töchterchen Nikolett. Durch den Kontakt über den Deutsch-Ungarischen Schüleraustausch in seinem Heimatland fand der junge Vater bei der Familie Neef in Tauberbischofsheim eine günstige Unterkunft mit liebevoller Aufnahme. Später mietete er sich bei Fritz und Gertrud Rahn in Schwarzenbronn bei Creglingen ein. „Ich habe dem Ehepaar Rahn viel zu verdanken. Ohne sie wäre ich nicht geblieben“, erinnert sich Peter Sipos an die so wichtige Warmherzigkeit der Menschen in einem völlig fremden Land.

Arbeit fand der ausgebildete Starkstromelektriker und Kellner sehr schnell im Hotel und Gasthof „Sonne“ in der Rothenburger Hafengasse. Das Familienleben auf Distanz von mehr als 1 000 Kilometern wurde unerträglich. Maria Sipos machte sich mit ihrer kleinen Tochter auf den Weg nach Schwarzenbronn. Es sollte erst einmal ein Aufenthalt auf Probe werden. Mit Händen und Füßen kommunizierte sie mit der Familie Rahn und freundete sich schnell mit ihnen an. Heute sind die beiden über 80 Jahre alten Herrschaften für Tochter Nikolett und Sohn Stefan, der in Deutschland geboren wurde, zu Großeltern geworden. Maria Sipos blieb und arbeitete als Putzfrau.

Im Jahr 2005 zog die Familie nach Rothenburg. Die Kinder forderten die junge Mutter mit ihren neu gewonnenen Deutschkenntnissen aus Kindergarten und Schule ständig heraus. Erfreut kam Nikolett mit den Worten nach Hause: „Mama, ich habe heute den ganzen Tag mit Puppen gespielt“.

So ging es nicht weiter – Mutter Sipos verstand kein Wort. Mit dem Deutschwörterbuch in der Hand, versuchte sie herauszufinden, was ihre Tochter eigentlich gesagt hatte. Motiviert, der Sprache mächtig zu werden, arbeitete sie sich im Mittelalterlichen Kriminalmuseum in Rothenburg anfangs als Reinigungskraft, als Aufsicht, als Kassiererin und später als Bedienung in der Cafeteria hoch. Bei ihrer Ankunft in Deutschland (im Jahr 2004) konnten Menschen mit Migrationshintergrund auch ohne Deutschkenntnisse Arbeit finden. „Es wurde mir nur ein oder zwei Mal gezeigt, was zu tun war und das hat gereicht, um die Aufgaben zu erfüllen“, erklärt Maria Sipos. Heute werden Bewerbungsunterlagen, Deutschkenntnisse und ein Führungszeugnis verlangt.

Eigeninitiative ist wichtig
Der Sprache mächtig, übernahm sie ungarische Führungen im Museum. Auch hier erfuhr sie freundschaftliche Unterstützung von Sonja Hammami, die als Büroangestellte im Museum tätig ist. „Sie ist heute so etwas wie eine Ersatzmama für mich geworden“, erzählt Maria Sipos.

Heute hat es die Familie zu einem eigenen Haus in der Bensenstraße gebracht und ist seit August 2017 Pächter des Hotels „Alter Ritter“. Dem Gästehaus angegliedert ist das Gasthaus Lecsó mit ungarischen Spezialitäten, das zuvor ein Schülerwohnheim war. Die Zimmermädchen im „Alten Ritter“ sind allesamt ungarischer Herkunft. Für sie ist die Familie Sipos und das Hotel zu einem neuen Zuhause geworden. Familie Sipos fühlt sich durch so viele liebgewonnene Menschen in ihrer neuen Wahlheimatstadt Rothenburg sehr angenommen. Seit acht Jahren unterhält sie eine Facebook-Gruppe, um selbst mit helfenden Händen die Neuankömmlinge in der Stadt zu unterstützen. „Wichtig ist für alle Menschen, die in Deutschland oder wo auch immer ein neues Leben beginnen wollen, Eigeninitiative zu zeigen und sich für Land und Leute zu interessieren“, rät die ehemalige Migrantin.

Aber damit nicht genug. Über Facebook kam sie mit Ildiko Ortolino in Kontakt, die heute als 1. Vorsitzende des im Januar 2016 neugegründeten Mitgrationsbeirates (MigB) der Stadt Rothenburg fungiert. Maria Sipos wurde sofort Mitglied des Beirates. Heute ist sie die Stellvertretende Vorsitzende (unter den Mitgliedern sind elf Nationalitäten) und setzt sich mit Herzblut für alle Neuankömmlinge in Rothenburg ein. Im Rahmen der Vollversammlung der AGABY (Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns) am 17. April 2016 wurde der MigB- Rothenburg als Mitglied in den Bayerischen Dachverband aufgenommen. Familie Sipos stellte die Räumlichkeiten ihres Hotels für die AGABY-Fachtagung zur Verfügung.

Dankbar für die liebevolle Aufnahme in Deutschland setzt sich Maria Sipos (oben li.) im Migrationsbeirat der Stadt Rothenburg ein. Foto: privat

Dankbar für die liebevolle Aufnahme in Deutschland setzt sich Maria Sipos (oben li.) im Migrationsbeirat der Stadt Rothenburg ein. Foto: privat

Im Rahmen der Tagung erhalten ehrenamtlich engagierte Vereine und Beiräte Fortbildungen zum Thema Migration. Einige Veranstaltungen des MigB in Rothenburg werden in Zusammenarbeit von der AGABY gestaltet. Es geht dabei um Integration im umfassenden Sinne: Sprache, Bildung und Ausbildung, Arbeit und Beruf sowie Sozialleistungen. Der MigB vertritt die politischen, rechtlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Interessen der ausländischen Einwohner. Er hat Mitspracherecht gegenüber der Verwaltung, Stadtrat und Politik in Bezug auf besondere Belange der ausländischen Bevölkerung.

Aus eigener Erfahrung weiß Familie Sipos, wie wichtig Sprachkurse sind. Genau an diesem Punkt setzte sich die zwölfköpfige Delegation des MigB gleich zu Anfang ein. Es wurden Räume geschaffen, Deutschdozenten organisiert und Spenden gesammelt, um den Betroffenen einen Deutschkurs finanziell zu ermöglichen.

„Wir haben schnell gemerkt, dass wir als Beirat eher, wie der Name schon sagt, als Ratgeber zur Seite stehen sollten und nicht als ausführendes Organ“, so Maria Sipos. Dem wurde Rechnung getragen. Was jedoch nicht heißt, dass die Mitglieder nicht auch praktische Ideen umsetzen.

Gemeinschaft ist der beste Sprachkurs
Eine Sprache kann man am besten bei verschiedenen Veranstaltungen lernen, dachten sich die Akteure. Ein interkultureller Stammtisch und ein gleichnamiger Kochabend sollte die Menschen bei Wort und Wein an einem Tisch vereinen. Mit großem Erfolg. Es wurden bis heute drei interkulturelle Fußballturniere in der Rothenburger Mehrzweckhalle veranstaltet, dessen Mannschaften aus Spielern verschiedener Herkunftsländer bestanden.

Die iranischen Spieler gewannen drei Mal und wurden im Finale sogar von Zuschauern anderer Nationalitäten angefeuert. Was für eine schöne Erfahrung für alle Beteiligten. Auch Kindern aus Migrationsfamilien wurde eine altersgerechte Stadtführung geboten. So kamen sie in Kontakt zu Gleichaltrigen.

In Anlehnung an Rothenburg als „Ort der Vielfalt“ ist der MigB natürlich auch beim internationalen Tag gegen Rassismus am Start. Wie er in diesem Jahr am 21. März aufgrund Corona-Pandemie aussehen wird, ist noch unklar. Künftig wünscht sich der MigB eine Beratungsstelle für Migranten in der Stadt, um direkte Hilfe bei Behördengängen, Arbeits- und Wohnungssuche leisten zu können.

„Wir sitzen alle in einem Boot. Die Frage ist nur, wie wir die Potenziale der verschiedenen Völker in unserer Stadt nutzen wollen, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen“, gibt Maria Sipos zu bedenken. Bei Interesse an der Mitarbeit oder bei Fragen kann man sich über Facebook oder direkt an den MigB im Internet unter dem Stichwort: Migrationsbeirat Rothenburg melden. ul