Steine statt Reliquien Jul01


Steine statt Reliquien

Die Heiltumskammer der St.-Jakobs-Kirche

Pfarrer Dr. Oliver Gußmann erklärt einige der Kunstwerke in der Heiltumskammer. Fotos: am

Pfarrer Dr. Oliver Gußmann erklärt einige der Kunstwerke in der Heiltumskammer. Fotos: am

Der Eingang ist unscheinbar. In der Durchfahrt unter der St.-Jakobs-Kirche (in der Klingengasse) befinden sich zwei braune Holztüren. Die meisten Passanten gehen zügigen Schritts daran vorbei. Dr. Oliver Gußmann, Touristen- und Pilgerpfarrer an St.-Jakob, öffnet eine der alarmgesicherten Türen. Ein verwunschen wirkender, polygonaler Raum mit Rippengewölbe verbirgt sich dahinter.

Durch mehrere Fenster fällt Licht auf die steinernen Zeitzeugen im Inneren. Imposante Skulpturen, Gipsmodelle, Gemälde, Steinfragmente, hölzerne Engelsflügel und ein leuchtend roter Herrnhuter Stern, der zur Weihnachtszeit über dem Altar hängt, füllen diesen Ort. Ja, was genau ist das eigentlich für ein Raum? Kapelle, Heiltumskammer, kleines Museum oder nur ein Abstellraum?

In Rothenburg hat sich die Bezeichnung Heiltumskammer etabliert. Eine Heiltumskammer ist ein sakraler Ort, an dem Reliquien aufbewahrt werden. Heutzutage, im 21. Jahrhundert, ist der Raum aber keine echte Heiltumskammer mehr, denn Reliquien befinden sich hier nicht. Und ob es diese jemals hier gab, ist auch nicht eindeutig belegt. „Wozu der Raum gedient hat, kann man nicht genau sagen“, so Gußmann.

Der Bau der St.-Jakobs-Kirche wurde im 13. Jahrhundert begonnen. Der erste Ablass zum Kirchenbau stammt aus dem Jahr 1286. Bereits zu dieser Zeit gab es in Rothenburg die Heilig-Blut-Reliquie, eine „Wunderblutreliquie bzw. ein Korporalienwunder, deren Verehrung im 13. und 14. Jahrhundert enorm zunahm“ (aus Anton Ress, Die Kunstdenkmäler von Bayern, Stadt Rothenburg o.d.T. I, S. 76 ff.)

Die bauliche Entstehung
Belegt sind weiterhin Zuwendungen durch neue Ablässe in den Jahren 1446, 1455, 1459, die den finanziellen Rahmen gaben, um den Kirchenbau „unter Überbrückung der Klingengasse mit der Errichtung des chorartigen, doppelgeschossigen Westbaus fortzusetzen“. Auf der Empore sollte die Heilig-Blut-Reliquie gezeigt werden, die um 1500 in den Riemenschneider-Altar eingefasst wurde.

Rückblickend gibt es für die Nutzung des Raumes unter der Empore keine klare Zuordnung. Anton Ress schreibt, dass „der unvollendet gebliebene, nur von der Straßenführung zugängliche, ebenerdige Kapellenraum zur Aufbewahrung des reichen Reliquienschatzes gedient haben dürfte“.

Stadtarchivar Dr. Florian Huggenberger hat in einer Akte des 18. Jahrhunderts über die Reliquien zwei Aufbewahrungsorte recherchiert: Einerseits das Pfaffenstüblein (Sakristei) und andererseits die „alte Capelle, vermuthlich Corporis Christi“, mit der die Heiltumskammer gemeint sein könnte. Jenes „Inventarium über die Heiligthümer oder alte Sachen“ zählt unter anderem auf:„Eine Monstranz von Messing, ein Haupt, (nach der Tradition) Johannis, ein Müze von grünem Zeug mit 2 Cränzen, ein Haupt in grünem Seidengezeug (nach der Tradition) Andreae. Ein Schere, vermuthlich von einem Meer Krebß“ oder „ein von Stein ausgehauenes Schildlein, worauf ein Jacobs Stab und Muscheln (wie die Pilgrim führen)“. Was davon wo gelagert wurde, ist nicht nachvollziehbar.

Eine Besonderheit des Raums sind die beiden Türen, von denen heute nur noch eine als Eingang genutzt wird. Anhand einer eigenwilligen baulichen Lösung wurden die Türlaibungen in Viertelkreisbögen eingefügt, die wiederum in Rundbogennischen sitzen.

Lagerstätte für Kunstwerke
Warum führen gleich zwei Türen, die von innen architektonisch aufwändig in Szene gesetzt sind, in den kleinen Raum? Ein Grund dafür könnte die Nutzung bei einer Prozession sein, wo die Menschen zur einen Seite hinein und zur anderen hinaus gehen. In der Wernitzer-Chronik aus der Mitte des 16. Jahrhunderts wird die Nutzung der Heiltumskammer als Wallfahrtsort vermutet. Das konnte aber nie belegt werden.

Im Vitrinenschrank lagern hölzerne Engelsflügel. Die Vermutung liegt nahe, dass diese als Zierwerk an der Vorgängerorgel von St.-Jakob angebracht waren.

Im Vitrinenschrank lagern hölzerne Engelsflügel. Die Vermutung liegt nahe, dass diese als Zierwerk an der Vorgängerorgel von St.-Jakob angebracht waren.

Anton Ress schreibt, der „Kapellenraum unter der Westempore, der seit nachreformatorischer Zeit profanen Zwecken diente […], wurde 1860 zu einem musealen Aufbewahrungsraum der aus der Kirche entnommenen Bilder und Steinskulpturen hergerichtet“ (S.92). Auch die Fotografie der Skulpturen des Ölbergs, die 1907 abgedruckt wurde, belegt, dass der Raum zur Aufbewahrung von Kunstwerken gedient hat.

In ähnlichem Sinne wird er auch heute genutzt. Steinerne Fensterbögen, Emporenunterwölbungen, Schlusssteine, Fialen und vieles mehr stehen Seite an Seite in der Heiltumskammer. Wappenschilder aus der Franziskanerkirche sind hier vorübergehend eingelagert und Bilder, vom Wappengemälde bis zum Bergpanorama (allesamt Schenkungen), hängen an den Wänden.

Arbeitsplatz der Steinmetze
„Die Fialtürme stehen mindestens seit den 60er Jahren hier“, sagt Thomas Ehrlinger, Leiter der Bauhütte von St.-Jakob. Seit vielen Jahren nutzt die Bauhütte diesen Ort, um wertvolle Steine einzulagern. „Wenn wir die Heiltumskammer nicht hätten, würden die Steine kaputt gehen oder zerschlagen werden“, sagt Ehrlinger und fügt an: „So einen Ort gibt es anderswo nicht“. In der Mitte der Heiltumskammer befindet sich ein großer Holztisch, darauf stehen nicht nur Steinbüsten und Gipsmodelle, sondern dort liegt auch das Handwerkszeug der Steinmetze. Hier fertigen die Mitarbeiter der Bauhütte ihre großformatigen Zeichnungen an.

Für die Öffentlichkeit ist der Raum nicht zugänglich. Einmal im Jahr konnten Interessierte dennoch einen Einblick gewinnen: Pfarrer Oliver Gußmann veranstaltete seine Lesungen zum „Märchenzauber“ (eine Veranstaltungsreihe, die vor Corona stets Anfang November stattfand) gerne in der Heiltumskammer. am