Freche Flügelträger – Die Engelsfiguren der Marke Rot-Ceramic werden im Sommer geboren Jul01


Freche Flügelträger – Die Engelsfiguren der Marke Rot-Ceramic werden im Sommer geboren

„Engel fallen nicht vom Himmel”, sang einst Hanne Haller. Was die Engel der Marke Rot-Ceramic betrifft, ist diese Liedtextzeile goldrichtig. Familie Griebel stellt sie aus der Keramikart Steingut-Ton am Standort Rot am See her.
Auf den ersten Blick wirkt er wie ein Unschuldsengel: Blonde Haare, weißes Gewand, zum Singen weit aufgerissener Mund und inbrünstig geschlossene Augen. Wer genauer hinsieht, erkennt die nackten Zehen unter dem übergroßen Kleid und die übertriebene Mimik. Als „frech” beschreibt ihn sein Schöpfer Günter Griebel. 1965 ersann der gelernte Indus-
triekaufmann den Engelsknaben, dem er Ende der 80er Jahre ein weibliches Pendant namens Susi zur Seite stellte. Beim Design arbeitete er bewusst mit dem Kindchenschema, der große Mund spreche ganz besonders Frauen an. „Fütter mich, beschütz’ mich”, scheint er auszudrücken.

Modellieren mit Herzblut
Eine Ausbildung zum Keramiker absolvierte der heute 74-jährige Günter Griebel nie. Vielmehr hat er den Beruf im Blut: Sein Urgroßvater Philipp gründete 1874 im thüringischen Gräfenroda einen Terrakotta-Betrieb, in dem er die verschiedensten Figuren aus Ton modellierte. Nach der Überlieferung war er einer der ersten, die dort Gartenzwerge in Serie herstellten. Die Familientradition setzte sich fort.
Günter Griebel hatte den Zwerg irgendwann satt und überlegte sich etwas eigenes: „Im Geschenkartikelbereich gab es unzählige klassische Engel. Ich fand sie altmodisch und wollte etwas Neues machen.” Zuerst modellierte Günter Griebel das Gesicht, dann den Körper. Ob seine Kreation ein Erfolg werden würde, wusste er damals noch nicht. Um es mit den Worten von Hanne Haller auszudrücken: „Für dich und für mich und die andern hab‘ ich einen Traum gehabt. Vielleicht wird er wahr und ich hab‘ nicht nur geträumt.“
Tatsächlich war der Engelsjunge von Anfang an eine Attraktion. Gemeinsam mit den Gartenzwergen seines Vaters stand er als Neuheit auf der Hausrat- und Eisenwarenmesse in Köln. Die Besucher ließen die Produkte seines Vaters links liegen und flogen auf die Engel. Vater Erich Griebel nahm’s sportlich.
In Spitzenzeiten beschäftigte Rot-Ceramic über 30 Mitarbeiter und dazu 70 Heimarbeiter zum Bemalen der Figuren. Das Sortiment war groß: Neben Engeln entstanden in Rot am See typisch deutsche Gartenzwerge in unerwarteten Posen, Uli-Stein-Figuren oder fußförmige Aschenbecher. „Wir hatten einen Riesenerfolg, aber wir wurden kopiert wie die Weltmeister“, sagt Günter Griebel. „Sobald wir etwas Gutes hatten, gab es Kopien aus Fernost. Dann war der Artikel für uns tot, aber die Lager voll.“ 2001 musste das Unternehmen Insolvenz anmelden. Der rettende Engel trägt ein weißes Gewand: Besagter geflügelter Knabe hält den Betrieb weiterhin am Laufen, der nun unter dem Namen Jutta Griebel Design firmiert. Alles ist kleiner geworden, außer den Figuren, die nach wie vor zwischen 5 und 50 Zentimeter groß sind. Mitarbeiter sind nur noch Günter Griebel, Ehefrau Jutta und Tochter Simone. Fertigte Rot-Ceramic früher einmal hunderttausende Engel pro Jahr, hat sich die Zahl auf fünf- bis zehntausend reduziert. „Wir haben immer noch einen Riesenspaß dabei“, versichert Günter Griebel.

Vorsichtig löst Simone Griebel die noch weichen Figuren aus der Gipsform.                     Fotos: sab

Vorsichtig löst Simone Griebel die noch weichen Figuren aus der Gipsform. Fotos: sab


Die Vertriebskanäle beschränken sich auf Fachhändler, das Internet und den hauseigenen Werksverkauf. Auch der Engel wurde plagiiert, aber im Lauf der Jahre war es Rot-Ceramic gelungen, eine Marke aufzubauen. Sammler und Freunde schätzen das Original. Manche haben zu Hause einen ganzen Engelchor. Günter Griebel mutmaßt, dass innerhalb der letzten 50 Jahre mehrere Millionen Rot-Ceramic-Engel in den Umlauf kamen. Zu dritt verwirklichen die Griebels immer neue Varianten. Pro Jahr gibt es zirka 25 Neuheiten. Für die kommende Saison sind das zum Beispiel Engel als Postboten, auf Skiern oder mit einem Stern, der sich individuell beschriften lässt. Nicht zu vergessen: der Jahresengel für Sammler.
Jutta Griebel (73) entwirft die gemeinsam erdachten Ideen auf Papier, Ehemann Günter setzt ihre Zeichnungen plastisch um. Aus dem Tonmodell fertigt er eine Gipfsform an, die aus zwei Hälften besteht.
Für die Fertigung ist hauptsächlich Tochter Simone (44) zuständig. Mit einem Literbecher gießt sie die flüssige Ton-Masse in eine Öffnung der Gipsform – ein Gummiband presst die beiden Hälften zusammen.

Viel Handarbeit steckt in den Engeln
Simone Griebel öffnet die Form nach zehn bis 60 Minuten – je nach Größe. Von Hand löst sie die noch weichen Figuren heraus. Abstehende Teile wie Flügel gießt sie separat, sonst würden sie abreißen. Bei der Figur „Huckepack“ setzt Simone Griebel das Mini-Engelchen auf den Rücken des Engelsvaters und verstreicht die Übergänge nahtlos. Die feuchte Masse ist grau, die trockenen Figuren weiß. Für sie heißt es dann ab in den heißen Ofen. Dort werden sie bei 1 020 Grad Celsius hartgebrannt.
Simone Griebel bemalt die abgekühlten Engel sorgsam mit Dispersionsfarben, die sich mit der Keramik verbinden. Flink eilt der Pinsel über die Figuren. Kein Strich geht daneben.
Der letzte Schritt ist das Anbringen der zugehörigen Accessoires, darunter echte Kerzen, Susis Schleifchen und Metallglöckchen. „Die Engel sollen zur Weihnachtszeit Freude bereiten“, sagt Günter Griebel. Produziert werden sie bereits im Sommer. Für die kalte Jahreszeit trifft deshalb wieder Hanne Hallers Liedtext zu: „Engel fallen nicht vom Himmel, Engel die sind längst schon da.” sab