Einer, der nachfragt – Hartwig Behr hat die dunkle Seite der Heimatgeschichte erforscht Aug01


Einer, der nachfragt – Hartwig Behr hat die dunkle Seite der Heimatgeschichte erforscht

Bücher, Bücher und noch mal Bücher wohin das Auge blickt. Mittendrin Hartwig Behr. Er wirkt gemütlich: Strickjacke, grauer Rauschebart, die Brille ist auf die Nasenspitze gerutscht. Darüber klare, eisblaue Augen, die signalisieren, dass der erste Eindruck möglicherweise täuscht. Hartwig Behr ist einer der nachfragt, auch wenn das weh tut. „Ich machte das, wo sonst kaum einer heran geht“, sagt er. Hinter vorgehaltener Hand hat ihm das von einigen den Beinamen „Juden-Behr“ eingebracht. Und darauf kann er stolz sein.

Hier bleibst du kein Jahr, hat er 1971 gedacht, als er nach dem Studium in Hamburg und Tübingen seine Stelle als Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie am Deutschorden-Gymnasium in Bad Mergentheim angetreten hat. Aber es kam anders: Bis 2007, 36 Jahre lang, hat er in Bad Mergentheim unterrichtet und ist gemeinsam mit seiner Frau Christa, eine Kollegin, bis heute in einem von Efeu beranktem Haus in Markelsheim zuhause.

„Vielleicht war es gut, dass ich nicht von hier bin“, sagt er. Hartwig Behr ist an der Elbe aufgewachsen, im protestantisch geprägten Uetersen in Schleswig-Holstein. Als Schüler hatte er Lehrer, die keinen Bogen um die Geschichte gemacht haben. Als Student hatte er zwei jüdische Professoren und kam so schon im Studium mit dem Thema Antisemitismus in Verbindung. Er hat eine wissenschaftliche Arbeit über Goebbels geschrieben und in Holland einen Juden getroffen, der schon Ende der 1960er Jahre frei über sein Schicksal sprach.

Mit der Heimatmedaille ist sein Wirken hochoffiziell gewürdigt worden.

Ein Exot an der Tauber

Jener junge Hartwig Behr kam also 1971 in die Tauberprovinz nach Bad Mergentheim. „Ich war dort ein Exot“, sagt er schmunzelnd. Die Erwachsenen haben ihn kritisch beäugt, die Schüler fanden ihn interessant.

Was macht ihr denn hier? Geht ihr tanzen? – waren eine seiner ersten Fragen an seine Schüler. Da es nicht viel Unterhaltung gab, hat er Tanzabende ins Leben gerufen, die später in den traditionellen Abiball mündeten. Fast 20 Jahre lang hat er das Kinoprogramm für Schüler realisiert, zuerst mit Vorführungen in der Aula, später im Kino. Durchschnittlich 18 Filme im Jahr, insgesamt 366 Filme, hat er ausgewählt, vorwiegend Literaturfilme, Dokumentationen und Anspruchsvolles. 

„Ich habe auch immer einen schlechten Film gezeigt, der vielleicht sogar ein Kassenschlager war, um auf die Unterschiede aufmerksam zu machen“, so Behr. Im Anschluss an die Kinoabende, die in der Freizeit stattfanden, gab es eine Diskussion. Hartwig Behr war ein Lehrer, der erkannte, was fehlt, und mehr als den Schulstoff vermitteln wollte.

Verschlossene Türen

Als im Geschichtsunterricht die Gleichschaltung behandelt wurde kamen Fragen von Schülern, wie das damals hier abgelaufen sei. Hartwig Behr kam auf die Idee mit seinen Schülern am alle zwei Jahre stattfindenden „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ der Körber-Stiftung teilzunehmen. Schüler können dort Arbeiten zu bestimmten Themen regionaler Geschichte  einreichen. In den 1980er Jahren waren das die Nationalsozialistische Zeit, danach Kriegs- und Nachkriegszeit.

Bücher gab es darüber nicht, also musste die Recherche vor Ort geschehen. Das hat nicht allen gefallen und er hat nicht überall Zugang erhalten. Behr hat sich trotzdem auf die Suche nach Akten, Protokollen, Zeitungsberichten gemacht. „Die Haltung derer, die die Macht über die Archive hatten, änderte sich erst im Laufe der Jahre“, erzählt er.

Bei der Recherche, was in der Zeit des Nationalsozialismus in Mergentheim passiert ist, kam Behr in Kontakt mit Sepp Ehrler, der einst Mitglied der Mergentheimer Spruchkammer war. Er zeigte ihm auch Fotos von Hermann Stern, der im Zuge des Pogroms vom 25. März 1933, das in vier hohenlohischen Orten stattfand, zu Tode geprügelt wurde. „Diese Fotos haben mich erschüttert“, so Behr. Wenn das hier in der Provinz passiert ist, kann es wieder passieren, waren seine Gedanken.

Im Jahr 1983, zum 50. Jahrestages des Pogroms, hat er einen ersten Artikel für die Tageszeitung darüber geschrieben. Im Jahr 1999 erschien in Zusammenarbeit mit Horst F. Rupp dann das Buch „Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen“, in dem die kompletten Protokolle sowohl von der Befragung der Juden als auch der Täter abgedruckt sind.

Eine Auswahl der Publikationen von Hartwig Behr.

„Man muss der Toten gedenken, aber auch wissen, was die Täter angetrieben hat“, so der Autor. Das Buch hätten einige gerne verhindert, aber 1999 ging das nicht mehr. „Mittlerweile hatte sich der Wind gedreht“, stellt Hartwig Behr fest und fügt an: „Aber ich fürchte, er dreht sich momentan wieder andersherum.“

Durch seine intensive Recherche in der lokalen Geschichte wurde Hartwig Behr sozusagen zum Ansprechpartner der ehemaligen jüdischen Mitbürger rund um Bad Mergentheim. Ab 1983 gab es drei Einladungen an ehemalige jüdische Mitbürger im Taubertal, bei denen er eng mitarbeitete. Aus Israel, Amerika, Kolumbien oder England kamen die Vertriebenen. Mit gut 20 ehemaligen jüdischen Mitbürgern pflegte Hartwig Behr den Austausch.

Ein einzigartiger Fund

„Es muss jemand da sein, der denen, die vertrieben wurden, hilft ihre Wurzeln zu finden“, sagt er. Behr hat die Familienregister kopiert, die in der jüdischen Gemeinde in Stuttgart archiviert sind, um Verwandschaftsverhältnisse herstellen zu können und Gräber zu finden. Mit berührenden Worten kann er von der Erleichterung der Nachfahren erzählen, die so eine gewisse Verbindlichkeit ihrer eigenen Historie erfahren haben.

Im Zuge seiner Recherchen fiel einst der Satz, dass es im Finanzamt Bad Mergentheim, zuletzt irgendwo auf dem Dachboden, noch die Akten der jüdischen Bürger geben muss. Behr hakte mit seiner bekannten Beharrlichkeit nach, „denn das wollte ich jetzt wissen“.

Es dauerte ein halbes Jahr, dann wurden über 100 Akten jüdischer Geschäfts- und Privatleute gefunden, die nun im Staatsarchiv in Ludwigsburg liegen. Jüdische Steuerakten aus der Zeit des Dritten Reiches haben sich nur bei ganz wenigen Finanzämtern erhalten. Der Fund in Bad Mergentheim ist somit außergewöhnlich und wäre ohne seinen Forschergeist wahrscheinlich nicht aufgetaucht.

Aus den Akten konnte Hartwig Behr vieles rekonstruieren, zum Beispiel das Schicksal von Berta Fröhlich, Inhaberin einer Großschlachterei, die systematisch in den Ruin getrieben wurde. Im November wird darüber ein Aufsatz von ihm in der Publikation der Landeszentrale für politische Bildung erscheinen.

Schreiben um zu bewahren

Alles Forschen und Archivieren für die Historie macht nur Sinn, wenn es die Öffentlichkeit auch erfährt. So hat Hartwig Behr etwa sechs Bücher veröffentlicht, 100 Studien zur Lokalgeschichte verfasst, diverse Vorträge über die jüdischen Gemeinden gehalten, den Aufbau des jüdischen Museums in Creglingen unterstützt, das Denkmal im äußeren Schlosshof in Bad Mergentheim mitinitiiert und vieles mehr.

Daneben widmet er sich seit 2006 der Aufarbeitung der Kurgeschichte Bad Mergentheims und hat dazu weit über 120 Artikel in der Kur- und der Tauber-Zeitung veröffentlicht.

Außerdem bindet er mit Leidenschaft Bücher. „Das Bücher Binden ist für mich ein Ausgleich zum Korrigieren gewesen und ein Hobby mit ästhetischen Herausforderungen und mit dem Zweck, Historisches zu bewahren“, erklärt Hartwig Behr.

Sein unermüdliches Engagement hat ihm im vergangenen Jahr auch die Auszeichnung mit der Heimatmedaille Baden-Württemberg eingebracht. Anfangs hat er die dunkle Seite der Heimatgeschichte den Schülern vermittelt, später mit seinen Publikationen der Allgemeinheit.

Hartwig Behr, der einst nicht mal ein Jahr bleiben wollte, ist längst zu einer Institution im Taubertal geworden. Er hat ein Leben lang darauf geachtet unabhängig zu bleiben, seine Meinung frei kundtun zu können und sich dabei nie weggeduckt. am