Eine nachhaltige Lebensform – Auf Schloss Tempelhof leben 140 Menschen nach eigenen Idealen Sep01


Eine nachhaltige Lebensform – Auf Schloss Tempelhof leben 140 Menschen nach eigenen Idealen

Maisfelder, Wiesen, Bäume und sonst realtiv wenig säumen den Weg nach Schloss Tempelhof. Nach Rothenburg sind es 30 Minuten per Auto, nach Crailsheim, Feuchtwangen, Dinkelsbühl jeweils knapp 20. Hier kommt keiner aus Zufall vorbei. Wer tief hinein in die fränkisch-hohenlohische Landschaft fährt, ist mitunter auf der Sinnsuche, denn seit 2010 gibt es hier die Gemeinschaft Schloss Tempelhof, ein Lebensprojekt der besonderen Art.
Begonnen hat alles im Jahr 2007, denn da beschlossen etwa 20 Menschen aus dem Raum München ihre Visionen umzusetzen. Sie suchten nach einem geeigneten Ort, um ein gemeinschaftliches Lebenskonzept aufzubauen. Relativ schnell war klar, dass die Gruppe das in der Münchner Region finanziell nicht stemmen konnte. Da kam einer auf die Idee, „Dorf zu kaufen“ im Internet einzugeben – und Tempelhof erschien.

Aller Anfang ist schwer
Schloss Tempelhof wurde vor dem 30-jährigen Krieg erbaut und entwickelte sich zum Weiler. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Anlage als Kindererziehungsanstalt genutzt, in den 1980er Jahren zog eine Werkstatt für Behinderte ein. Seit 2006 stand das komplette Ensemble leer.
„Der erste Eindruck war schon hart“, erzählt Agnes Schuster, eine der Mitbegründerinnen des Tempelhofs. Alles war grau in grau, es gab gerade mal eine funktionierende Toilette. Aber die Vision war da. Nach einem halben Jahr Verhandlungen kaufte die Gruppe im Jahr 2010 die Anlage Tempelhof für 1,5 Millionen – finanziert aus eigenen Mitteln.
Zwei bereits bestehende Mehrfamilienhäuser auf dem Gelände wurden renoviert und 2011 zogen die ersten Tempelhofer ein. Mittlerweile leben in der Gemeinschaft Tempelhof 100 Erwachsene und 45 Kinder und Jugendliche. Und die Nachfrage hält an: pro Jahr nimmt die Gemeinschaft etwa zehn Erwachsene und vier Kinder auf.
Die Gemeinschaft Schloss Tempelhof ist nicht zu verwechseln mit einer Wohngemeinschaft, in der jeder seine eigenen Interessen vertritt. Von Anfang an lag der gedankliche Kern bei einer echten Solidargemeinschaft mit basisdemokratischen Wurzeln und dem Bekenntnis zur Nachhaltigkeit.
Daher haben die Münchner Pioniere das Konzept von Beginn an auf drei Säulen gestellt: Die Grundstiftung Schloss Tempelhof ist die Hüterin der Projektes und hat Grund und Boden gekauft. „So werden Spekulationen verhindert“, erklärt Agnes Schuster. Die Liegenschaft Tempelhof umfasst 30 ha Grund (16 ha Grünland, 10 ha Ackerland mit Gärtnerei, und 4 ha Baugrund). Die Stiftung überlässt per Erbpachtrecht Gebäude und Grund für 99 Jahre der Genossenschaft Tempelhof, der zweiten Säule des Konzeptes. Diese nutzt und verwaltet die Gebäude, führt Baumaßnahmen durch.
Die dritte Säule im Bunde ist der Verein Tempelhof, Träger der sozialen Projekte und Organisationen. Der Seminarbetrieb, die freie Schule, die Zirkusschule oder Kunstprojekte sind hier angesiedelt.

Investition in die Zukunft

Maya Lukoff und Sebastian Heilmann sind als Gärtner für die Versorgung der Gemeinschaft zuständig. Nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft erreichen sie bis zu 70 Prozent Selbstversorgung.Fotos: am

Maya Lukoff und Sebastian Heilmann sind als Gärtner für die Versorgung der Gemeinschaft zuständig. Nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft erreichen sie bis zu 70 Prozent Selbstversorgung.Fotos: am


Von den 100 Erwachsenen, die momentan am Tempelhof leben sind 80 Genossen und tragen das Projekt. Nach einer etwa einjährigen Annäherungsphase können Interessenten – vorausgesetzt keiner der anderen Genossen legt ein Veto ein – gegen eine Mindesteinlage von 30 000 Euro Genossen werden. Damit hat man ein Wohnrecht und ist an dem gesamten Projekt beteiligt. „Wer hier leben will, investiert in ein Lebenskonzept“, erklärt Stefanie Raysz, die seit 2012 mit ihrer Familie hier lebt.
Jeder der Tempelhofbewohner ist für seinen Lebensunterhalt selbst verantwortlich. Die Menschen leben vorwiegend in Wohngemeinschaften oder Familienwohnungen. Maximal 36 m2 Wohnraum steht jedem zu, „wobei die meisten von uns auf 20 bis 30 m2 leben“, so Agnes Schuster. Frühstück, Abend- und Mittagessen bereitet die Küche für alle Bewohner im sogenannten „Wohnzimmer“ zu, einem der wenigen Neubauten mit großer Glasfassade und Blick in den Garten.
Die Tempelhofer zahlen hierfür einen monatlich vereinbarten Betrag, durch den sowohl die Küche als auch die solidarische Landwirtschaft finanziert wird, die zu 70 Prozent die Nahrungsmittel für die Gemeinschaft produziert.
Die Menschen auf dem Tempelhof arbeiten in den verschiedensten Berufen. Die Handwerker, Köche, IT-Unternehmen, Diplomingenieure, Sozialpädagogen, Gärtner, Agrarwissensschaftler usw. bringen sich auf dem Tempelhof mit ihren individuellen Eigenschaften ein. Jeder, der hier lebt, muss pro Woche fünf Gemeinschaftsstunden leisten.

Stahlkraft – Leben in Gemeinschaft
Das Projekt Tempelhof funktioniert nur, wenn eine echte Germeinschaft entsteht. „Das richtige Handwerkszeug und die Methoden für Entscheidungen in Großgruppen sind dafür sehr wichtig“, erklärt Agnes Schuster. Es geht darum, wie eine Gruppe konfliktfähig wird, wie einstimmige Entscheidungen zustande kommen. Im Tempelhof passiert nichts ohne den Willen aller. „Dann gibt es hinterher auch keinen Sand im Getriebe“, so Stefanie Raysz.

Der Morgenkreis ist eines der verbindenden Elemente, mit denen die Gemeinschaft das Wir-Gefühl stärkt.

Der Morgenkreis ist eines der verbindenden Elemente, mit denen die Gemeinschaft das Wir-Gefühl stärkt.


Die Tempelhofer haben regelmäßige Intensivtage in der Gemeinschaft, in denen sie sich wissenschaftlich aufbereitet einem Thema widmen. Daneben gibt es Sozialforen, die Raum für zwischenmenschliche Themen geben, und das Dorfplenum, in dem die Genossen basisdemokratisch alle anfallenden Entscheidungen treffen. Die Schlossgemeinschaft Tempelhof ist weit entfernt von sektenähnlichen Strukturen, die von einer Leitfigur beherrscht werden. Vielmehr eint die Mitglieder die Bereitschaft, an der Herausforderung einer echten Solidargemeinschaft mit der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten.
Nach gut fünf Jahren Gemeinschaft Schloss Tempelhof sind die Fortschritte deutlich zu erkennen und das Projekt strahlt längst über den Weiler hinaus. Von den 100 Erwachsenen vor Ort, beziehen etwa 45 mittlerweile ein Teileinkommen direkt vom Tempelhof.
Vor dem Dorfeingang stehen drei moderne Gewächshäuser, darin wachsen Salat, Kohlrabi, Kürbisse und vieles mehr. Ein Team von drei ausgebildeten, jungen Gärtnern, unterstützt von engagierten Helfern, baut hier das Gemüse zur Versorgung der Tempelhofbewohner an. „Unser Prinzip ist die solidarische Landwirtschaft“, erklärt Sebastian Heilmann, einer der Gärtner, der seit gut zwei Jahren als Projektmitarbeiter auf dem Tempelhof lebt.
Dies umfasst mehr als den biologischen Anbau von Gemüse. Hier geht es auch um Pflege und Aufbau des Bodens, einen möglichst geringen Einsatz von schweren Maschinen und der sich schließenden Nahrungskette. „Was ich hier anbaue, wird von der Küche verarbeitet und ich esse es “, stellt Sebastian Heilmann fest.

Ein Teil Solidarität für Jedermann
Seit diesem Jahr gibt es auch die Möglichkeit, eine Art Gemüsekiste von der solidarischen Landwirtschaft Tempelhof zu beziehen. Gegen einen Monatsbeitrag von 100 Euro erhält man saisonales Gemüse und selbstgebackenes Brot. Die wöchentliche Auslieferung erfolgt an zentralen Stellen (momentan nach Crailsheim, Dinkelsbühl und Feuchtwangen).
Außerdem gibt es den Tempelhofladen, der an vier Tagen die Woche nachmittags geöffnet hat. Hier wird neben Gemüse und selbstgemachte Pestos und Curries auch der eigene Ziegenkäse verkauft. Etwa 52 Ziegen tummeln sich rund um den Tempelhof, und eine eigene Käserin, Irmgard Bischof, stellt Frisch- und Hartkäse, und manchmal auch Camembert aus der Ziegenmilch her.

Die freie Schule der Gemeinschaft Tempelhof nimmt auch externe Kinder auf.  Fotos: Privat

Die freie Schule der Gemeinschaft Tempelhof nimmt auch externe Kinder auf. Fotos: Privat


Der Tempelhof ist ein generationenübergreifendes Projekt und daher haben die Genossen vor drei Jahren auch die freie Schule ins Leben gerufen. Das Prinzip der solidarischen Gemeinschaft soll den Menschen das ganze Leben begleiten und so lernen schon die Jüngsten (ab 4 Jahren) die Entwicklung von Entscheidungsprozessen. „Die Kinder sollen sich nach eigener Motivation entfalten“, erklärt Lernbegleiterin Judith Marquard. Lehrer und Frontalunterricht gibt es hier nicht. Die Lernbegleiter setzen den geschützten Rahmen zur Entfaltung der Kinder. Diese lernen nach ihren Bedürfnissen. Es gibt keine Fächer und keine vorgegebenen Fachinhalte oder Lernformen, und die Kinder entscheiden selber, was sie wann lernen möchten. Von den etwa 50 Kindern in der freien Schule im Tempelhof kommt bereits ein Drittel aus den umliegenden Dörfern – und die Tendenz ist steigend.
Überregional erregte die Gemeinschaft besonderes Aufsehen mit dem Bau eines des ersten Earthships, einem Haus aus Autoreifen, Glas und Müll, das energetisch autark ist und von 70 Menschen aus 17 Nationen erbaut wurde. Seit 2015 ist das Projekt, um das sich als zentrale Wohneinheit mehrere Bauwägen gruppieren fertig und wird bewohnt. Einmal im Monat kann das Earthship bei einer Führung besichtigt werden
So paradiesisch die Gemeinschaft Tempelhof auch anmuten mag, Agnes Schuster, Stefanie Raysz, Sebastian Heilmann und den anderen ist anzumerken, dass gelebte Solidarität nicht einfach so passiert. Die Gemeinschaft Tempelhof wagt sich auf das Terrain experimenteller Lebensformen – und dazu bedarf es des engagierten und aktiven Mitwirkens eines jeden Einzelnen. am