Die DNA der Stadt Dez01


Die DNA der Stadt

Das Stadtarchiv in Rothenburg: Belegte Historie

Eine Stadt ist ein von Menschen geschaffenes Konstrukt, das eine von Normen und Werten geprägte, gemeinschaftliche Lebensform gewährleistet. Die Stadt selbst, bloße Form, dürfte daher kein Eigenleben haben. Schaut man sich allerdings im Stadtarchiv in Rothenburg um, scheint der seit Jahrhunderten andauernde Bauplan der Stadt greifbare und eigenständige Züge anzunehmen.

Dr. Florian Huggenberger, studierter Geschichts- und Volkskundler, der in der fränkischen Landesgeschichte promoviert hat, ist der Hüter all dieser Informationen. Nach einer Elternzeitvertretung im Jahr 2018 ist er seit Mai 2019 dauerhaft als Stadtarchivar für die Hinterlassenschaften Rothenburgs zuständig. Gebürtig aus Hartershofen stammend, verbindet ihn vieles mit Rothenburg. „Das ist eine Traumstelle für mich“, sagt er.

Seit 1960 ist das Stadtarchiv im Büttelhaus und in drei Räumen im angrenzenden Markusturm untergebracht. Das Büttelhaus, beim Bombenangriff 1945 schwer getroffen, wurde speziell für die Anforderungen eines Archivs wieder aufgebaut.

Stadtarchivar Dr. Florian Huggenberger im Magazin: In den Papierumschlägen befinden sich historische Urkunden.  Fotos: am

Stadtarchivar Dr. Florian Huggenberger im Magazin: In den Papierumschlägen befinden sich historische Urkunden.  Fotos: am

Unveränderte Aufgabe
„Der Ursprung des Stadtarchivs dürfte im Jahr 1274 mit dem Reichsfreiheitsprivileg liegen“, vermutet Dr. Florian Huggenberger. Rothenburg wurde damals zur Reichsstadt erhoben und war ein eigenständiges politisches Gebilde, stellte Urkunden aus und machte Rechtsgeschäfte. Steuerunterlagen, Gerichtsunterlagen, Vereinbarungen in der Landwehr oder eben Urkunden mussten aufgehoben werden. Das ist die Kernaufgabe eines Stadtarchivs. „In gewisser Weise hat sich daran auch nichts geändert“, stellt Huggenberger fest.

Im Eingangsbereich im Büttelhaus stehen zwei alte Archivschränke. Die ersten Dokumente wurden wohl in Truhen im Rathaus aufbewahrt. Im 16. und 17. Jahrhundert kamen dann die Archivschränke auf. Jener aus dem Jahr 1692 nimmt eine ganze Wand ein.

Davor stapeln sich unzählige Kisten. Darin ist das aktuelle Material aus der Stadtverwaltung: Belege von der Stadtkasse, Meldeunterlagen oder auch Dokumente vom Standesamt. Per Gesetz müssen die Unterlagen eine bestimmte Zeit aufbewahrt werden, danach gehen sie ans Archiv. Huggenberger sichtet das Material und archiviert, was von wissenschaftlicher und zukünftiger Bedeutung ist. Geburtsurkunden kommen nach 110 Jahren ins Archiv, Heiratsurkunden nach 70 Jahren, Sterbedokumente nach 30 Jahren. Aber wer interessiert sich dann noch dafür?

„Familienforscher sind meist an Meldeunterlagen aus dem 19. und 20. Jahrhundert interessiert“, erklärt der Stadtarchivar. Aber auch Anfragen von Gerichten und Anwälten erreichen ihn regelmäßig im Hinblick auf die Klärung von Erbschaftsfragen. Etwa 100 Besucher pro Jahr recherchieren im Archiv vor Ort. „Dazu kommen noch rund 200 telefonische Anfragen“, so Huggenberger.

Forschungsgrundlage
Der Großteil der Benutzer kommt aus dem universitären Bereich. Studenten, Doktoranden oder Universitätsangestellte mit Forschungsaufträgen recherchieren im Stadtarchiv. „Eine Studentin hat beispielsweise zu einer Abschlussarbeit über die Korrespondenz der Reichsstadt Nürnberg geforscht und auch die Rothenburger Dokumente eingesehen“, erklärt Huggenberger. Von allen gedruckten Arbeiten kommt im Anschluss ein Exemplar ins Archiv. Etwa 800 wissenschaftliche Werke oder Forschungsberichte umfasst die Sammlung mittlerweile.

Im Lesesaal des Stadtarchivs sind unter den aktuellen Coronabedingungen drei Arbeitsplätze neu ausgerüstet worden. Abgesichert durch Trennwände können Interessenten nach Voranmeldung das Archiv nutzen. Ein Stadtarchiv ist per Gesetz eine öffentliche Institution. „Unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte sind die Informationen jedermann zugänglich“, so Huggenberger.

Kurioses Detail im Gerichtsbuch des Kaiserlichen Landgerichts aus den Jahren 1303 bis 1340. Der Geschichtsschreiber hat nicht nur Verhandlungen und Rechtssprechungen festgehalten, sondern auch nette Gesichter an den Seitenrand gezeichnet.

Kurioses Detail im Gerichtsbuch des Kaiserlichen Landgerichts aus den Jahren 1303 bis 1340. Der Geschichtsschreiber hat nicht nur Verhandlungen und Rechtssprechungen festgehalten, sondern auch nette Gesichter an den Seitenrand gezeichnet.

Im Lesesaal stehen den Besuchern die Hilfsmittel zur Benutzung des Archivs zur Verfügung: Nachschlagewerke, Heimatgeschichtliches über Bayern, Franken, Hohenlohe und vieles mehr. Thematisch geordnet entfaltet sich hier ein kleiner Kosmos rund um alle Einflüsse, die die Stadt je geprägt haben. Im nicht öffentlich zugänglichen Magazin ruhen dann die ideellen Schätze der Stadt: Die kirchliche Bibliothek mit handschriftlichen Werken und ersten Drucken aus dem 15. Jahrhundert, die Ratsbibliothek aus dem 16. Jahrhundert und die wissenschaftliche Buchsammlung des Mediziners Dr. Oskar Klett, die 1945 in die Rats- und Konsistorialbibliothek einge-
gliedert wurde.

Bereits 1924 wurde die Konsistorialbibliothek durch die Übernahme der Bibliotheken von Realschule und Progymnasium erweitert. Dadurch kamen erstmals neuere Werke in den Bestand. 1935 wurde die Konsistorialbibliothek mit der Ratsbibliothek vereinigt und seitdem hat sich der Name „Rats- und Konsistorialbibliothek“ gefestigt. Die alten Bücher der Räte bleiben aber die Hingucker. Schriften zur Geschichte, Jurisprudenz, Philosophie oder besondere Bildungswerke stehen in Leder oder Pergament gebunden in langen Regalen. Neben dicken, schweren Bänden finden sich auch zarte Büchlein und in vielen Werken haben die Räte Anmerkungen an die Seiten geschrieben. Ein Beweis, dass mit der Sammlung auch gearbeitet wurde.

Fein sortiert in Kartons und eingeschlagen in Papier ruhen Tausende von Urkunden in den Regalen, die von den Geschicken der Reichsstadt zeugen. Der reichsstädtische Bestand aus der Zeit 1241 bis 1805 umfasst 8 000 Bücher und 5 000 Urkunden. Die bayerische Zeit vom 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts ist in 1 800 Kartonschubern (mit jeweils bis zu 15 Akten) belegt. Und wie findet man darin gezielt Informationen?

„Der bayerische Bestand ist in einem Findbuch erfasst“, erklärt der Stadtarchivar. Nach Überbegriffen geordnet wie „Glücksspiel und Lotterie“ oder „Gewerbe im Umherziehen“ lassen sich Unterbegriffe und die entsprechenden Akten finden.

Angewandtes Wissen
Außerdem hat der langjährige ehrenamtliche Stadtarchivar Dr. Ludwig Schnurrer ein umfangreiches Stichwortverzeichnis angelegt. „Damit findet man sehr viel“, weiß Dr. Florian Huggenberger. Für die meisten Fragen zur Geschichte der Stadt hat er die passenden Antworten parat – oder weiß zumindest, wo man sie suchen muss. In neuer Zeit hat das Stadtarchiv auch eine öffentliche Strahlkraft. Angegliedert an das Referat für Kultur und Tourismus untermauert Dr. Florian Huggenberger die Außendarstellung Rothenburgs mit wissenschaftlichen Informationen beispielsweise bei den Themenjahren „Pittoresk“ oder auch bei Sonderveranstaltungen wie dem Vortrag zum Kriegsende im Mai. Außerdem hat er maßgeblich die Unterlagen zur Bewerbung der Stadt als Weltkulturerbe ausgearbeitet. Der Schwerpunkt „Wiederaufbau der Stadt“ soll Rothenburg ins Rennen bringen. Das Wissen darüber liegt im Archiv. am